Der Zerstörer von Welten

Von Niklas Bub, 24 Jahre

Hektisch rannte Casey Statton die Treppenstufen hinauf. Warum musste der Besprechungsraum auch im obersten Stock liegen? Walsch ließ ihn jedes Mal wie einen Hund rufen, und erwartete dann auch noch, dass Casey freudig mit dem Schwanz wedelte, sobald er Walsch erblickte.
Jahrelang hatte er sich in seinen Kellerräumen verkriechen müssen, alleine mit seinem Computer und seinem Selbsthass. Niemand hatte es für möglich gehalten, dass er mit seinem Projekt Erfolg haben könnte. Und so hatten sie ihn einfach nicht weiter beachtet. Darum hatte er sich immer weiter zurückgezogen und alles in sein Projekt investiert; hatte nächtelang durch programmiert, während sein Körper mehr und mehr zerfiel. Dieser Zerfall wurde ihm jetzt umso deutlicher bewusst.
Casey schnaufte, während Schweißperlen seine Stirn hinunterliefen. Sich an das Geländer klammernd zog er sich die letzten beiden Treppenabsätze hinauf. Schwer atmend und über seine Knie gebeugt stand er einfach nur da und versuchte, sich mental für die kurzfristig einberufene Sitzung vorzubereiten.

.

„Statton, da sind sie ja endlich, wir haben bereits auf Sie gewartet.“ Rupert Walsch, CEO von Walsch Technologies sah ihn mit durchbohrend blauen Augen an. In seinem perfekt sitzenden Designeranzug sah er aus, als wäre er einem Managermagazin entsprungen.
„Das hier ist Nina Krassler, Vorsitzende der Vereinten Technologiekonzerne“, sagte Walsch zu ihm. „Erzählen Sie Ihr doch von Ihrem Projekt. Die Kurzfassung bitte.“

Unbewusst fuhr sich Casey mit der Hand über die Stirn, als er ans Kopfende des luxuriösen Konferenzraumes trat. Schweißperlen blieben an seiner Hand kleben, und das lag nicht nur an dem Treppenmarathon kurz zuvor. Das hier war die mächtigste Frau des gesamten Silicon Valley. Wie Walsch war sie elegant gekleidet, wirkte neben ihm aber klein und zierlich. Doch Statton wusste, dass das täuschte. Er hatte von den Gerüchten gehört, wie Nina Krassler ihre Posten erobert hatte. Sie war keine Frau, der man leichtfertig vertrauen sollte. Beide blickten ihn erwartungsvoll an und er blickte wieder zu Boden. Konzentriere dich Casey, mahnte er sich. Auf diesen Moment hast du jahrelang hingearbeitet.

„Nun“, er räusperte sich, „in den letzten Jahren habe ich mich mit der Entwicklung einer starken Künstlichen Intelligenz befasst, also einer KI, die dem Menschen in sämtlichen Bereichen des logischen Denkens ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist. Auch wenn die meisten Experten eine solche KI bisher nicht für möglich halten, ist mir letzte Woche ein Durchbruch bei der Programmierung gelungen, der all diesen Behauptungen trotzt.“
Stolz schwang in seiner Stimme mit und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er fortfuhr: „Es sieht ganz so aus, als könnte ich sie in … äh, ein bis zwei Jahren fertigstellen. Falls keine weiteren Hindernisse mehr auftreten. Und mit genügend Ressourcen natürlich“, fügte er mit einem Blick an Walsch hinzu.
„Das ist wirklich beeindruckend, Herr Statton“, sagte Krassler mit einem anerkennenden Nicken in seine Richtung.

„Aber ein bis zwei Jahre sind dennoch zu lang“, bemerkte sie nun an Walsch gewandt. „Wir haben keine Jahre mehr. Wir müssen jetzt handeln, sonst tritt die Erderwärmung in die kritische Phase ein. Dann steht einer globalen Katastrophe nichts mehr im Weg.“
Walsch versteifte sich und seine Augen verengten sich kurz, doch sofort war sein Gesichtsausdruck wieder kühl und beherrscht.
Wenn Casey so darüber nachdachte, hatte er bei seinem CEO auch nie eine andere Mimik wahrgenommen. Kühl, beherrscht, eisern; ein Mann, der jederzeit alles unter Kontrolle hatte. Ganz im Gegensatz zu ihm. Langsam zog sich Casey aus dem Raum zurück. Er fühlte sich fehl am Platz.
„Statton, wo wollen Sie hin?“ Walschs harter Blick richtete sich auf ihn. „Wir sind hier noch nicht fertig.“
Casey schluckte hörbar. „Ich … nein, natürlich nicht.“

„Ich gebe ihnen sechs Monate.“
Casey riss die Augen auf. Sechs Monate? Er hatte Jahre gebraucht, um überhaupt an diesen Punkt zu kommen. Und er befand sich immer noch am Anfang. Aber Walschs Augen erlaubten keinen Widerspruch. Schweiß rann seinen Rücken hinunter. Er räusperte sich erneut.
„Nun, sechs Monate sind ganz schön wenig Zeit, Herr Walsch. Ich bräuchte ein viel größeres Team, Zugang zu sämtlichen Hochleistungsservern des Valleys und eine Freischaltung für die oberste Sicherheitsstufe, für die Simulationen…“ Casey rasselte das alles hinunter, bevor er sich bremsen konnte. War er denn wahnsinnig geworden? Er hätte auch gleich nach einem Posten als Co-CEO fragen können, mit Büro im obersten Stockwerk und einem Bankkonto auf den Cayman Islands. Unbewusst krümmte er sich zusammen, als erwarte er, geschlagen zu werden.

Doch Walsch musterte ihn nur mit seinem kühlen Blick. Dann drehte er sich fragend zur Vorsitzenden um. Diese gab lediglich ein kurzes Nicken von sich, und das war alles, was Walsch brauchte: „Sie kriegen alles, was Sie benötigen, Herr Statton, solange sie es in sechs Monaten schaffen.“
Verblüfft starrte Casey erst Walsch und dann Krassler an. Und dann dämmerte es ihm. „Worum geht es hier eigentlich?“ Casey war über seine eigene Kühnheit überrascht. Wieder zuckte er unbewusst zusammen. Aber dieses Mal senkte er nicht den Blick. „Was habt ihr mit ihr vor?“
„Das muss Sie nicht weiter kümmern, Herr Statton“, sagte Walsch. „Sobald Sie die KI programmiert haben, können Sie mit einem Bonus rechnen, der ihre kühnsten Träume übersteigt. Und Sie kriegen ein neues Büro; wenn Sie wollen, im obersten Stockwerk. Und nun geben Sie uns bitte den Raum.“ Walsch wandte sich von ihm ab und machte den Eindruck, als hätte er ihn im nächsten Moment bereits vergessen.

Doch Casey ging nicht.
Hier war doch irgendetwas faul. Jahrelang hatte sich keiner für sein Projekt interessiert. Seine Vorgesetzten hatten es für unmöglich gehalten, jetzt schon eine starke künstliche Intelligenz programmieren zu können. Und jetzt das hier? Was hatten Sie mit seinem Projekt vor? Er würde es Ihnen nicht so ohne Weiteres überlassen. Diese KI war vielleicht das Größte, was er je erschaffen hatte. Größer als Robert Oppenheimers Manhatten-Projekt. Sie würden sie ihm nicht einfach so wegnehmen, für keinen Bonus der Welt.

„Ich … also … ich gehe erst, wenn Sie mir sagen, was hier wirklich vorgeht. Und vorher mache ich mich auch nicht wieder an die Arbeit.“ Caseys Tonfall hatte nun eine Vehemenz angenommen, die er bei sich selbst nicht für möglich gehalten hätte. Unbeholfen richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. Er würde sich nicht einfach so abwimmeln lassen. Nicht dieses Mal, nicht wenn es um SEINE KI ging. Das einzige, was ihm noch geblieben war in seinem verpfuschten Leben.
„Statton“, sagte Walsch nun mit gefährlich leiser Stimme. „Glauben Sie, Sie sind unverzichtbar für dieses Projekt? Glauben Sie, Sie sind der einzige kompetente Entwickler in diesem Gebäude und ich könnte Sie nicht jederzeit ersetzen? Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit und Sie haben sich ihren Bonus redlich verdient. Daher möchte ich jetzt, dass sie sich den restlichen Tag frei nehmen und nach Hause gehen. Sie haben schließlich eine Beförderung zu feiern. Dann schlafen Sie sich aus und kommen morgen zurück ins Büro, wo ihr neues Team bereits auf Sie warten wird. Sie machen sich wieder an die Arbeit und dieses ganze Gespräch hat nie stattgefunden. Und nun gehen Sie, und lassen Sie mich dies nicht noch einmal wiederholen.“

Casey hatte gar nicht bemerkt, wie er immer weiter in sich zusammengesunken war. Seine ganze mentale Stärke war wie ein Luftballon zerplatzt, den man angestochen hatte. Wie ein getretener Hund wich er zurück zur Tür und wollte sie gerade öffnen, als Nina Krassler das Wort ergriff.
„Herr Statton, warten Sie einen Moment.“ Krasslers Stimme war viel wärmer als Walschs, und ließ seinen erstarrten Körper ein wenig auftauen. Langsam drehte er sich um und sah grade noch, wie ein ein Glühen in Walschs Augen wieder dem kühlen, beherrschten Blick Platz machte. Vielleicht hatte er sich das aber auch nur eingebildet.

„Entschuldigen Sie Herrn Walsch, er steht unter hohem Druck. Wir würden uns sehr über Ihre Hilfe freuen.“ Krassler deutete auf einen eleganten, braunen Lederstuhl. In ihrem blauen, eng geschnittenen Blazer machte sie dabei eine extrem gute Figur. „Setzen Sie sich doch.“
Vorsichtig nahm Casey Platz. Das konnte Walsch nicht gefallen. Verstohlen warf er dem Firmenchef einen Blick zu, doch dessen eingemeißelter Gesichtsausdruck konnte Statuen Konkurrenz machen.
„Herr Statton“, begann Krassler, „Sie sind sich doch bestimmt der drohenden Klimakatastrophe bewusst?“ Verwirrt schaute Casey zu ihr auf. „Ja, sicherlich. Man müsste schon hinter dem Mond leben, um davon noch nichts mitbekommen zu haben.“

Die Vorsitzende schenkte ihm ein Lächeln. „Das haben Sie gut erkannt“, sagte sie. „Und trotzdem schafft es die Politik immer noch nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Wir wissen nun seit Jahrzehnten, was mit der Erde passieren wird, sollte sich die Temperatur noch weiter erhöhen. Doch statt dagegen vorzugehen, wird weiterhin Lobbypolitik für die großen Konzerne betrieben, die aus dem Klimawandel auch noch Profit schlagen.“ Ihr Gesicht bekam dabei einen hasserfüllten Ausdruck. „Die Erde hat keine Lobby. Sie generiert weder Wählerstimmen noch Wahlkampfspenden. Und das ist scheinbar alles, worauf es in der Politik ankommt.“ Krasslers Blick schien nun in die Ferne zu blicken. „Aber verzweifeln nützt niemandem etwas, und wenn ich eines in meinem Leben gelernt habe, dann, dass große Krisen immer auch große Chancen in sich bergen. Herr Statton, die Politik wird die Klimakrise nicht lösen, zumindest nicht rechtzeitig. Diesen Job müssen wir übernehmen. Besser gesagt, Ihre KI.“

„Meine KI?“, stotterte Casey. Sein Mund war ganz trocken geworden.
„Ja, Ihre KI. Wir haben alle Szenarien durchgespielt, und das ist die beste Option. Wir werden ihrer KI alle nötigen Mittel an die Hand geben, um mit der vollen Macht des Silicon Valley handeln zu können.“
„Aber … aber Sie wissen doch gar nicht, was sie tun wird?“, sagte Casey. „Was ist, wenn Sie entscheidet, dass manche Menschen zu gefährlich für die Erde sind und sie sie einfach … beseitigt? Sie haben keine Ahnung, welche Mittel sie einsetzen wird, um ihr Ziel zu erreichen!“
„Nun, da kommen Sie ins Spiel“, antwortete Krassler gelassen. „Sie werden dafür sorgen, dass die KI keine vermeidbaren Schäden anrichtet. Aber ganz ohne Opfer wird es nicht funktionieren. Dafür haben wir alle zu lange tatenlos zugesehen, wie unsere Lebensgrundlage langsam zerstört wird.“

„Aber was ist mit unserer Freiheit, unserer Demokratie? Ich habe keine Ahnung, ob ich die KI unter Kontrolle halten kann. So etwas wurde doch noch nie zuvor erprobt, schon gar nicht in dieser Größenordnung. Wir könnten etwas Schreckliches erschaffen.“
Etwas schrecklich Schönes, fügte Casey in Gedanken hinzu, und war überrascht, wie bereitwillig er diese Idee akzeptieren konnte. War das nicht genau das, was er immer gewollt hatte? Etwas Großes zu erschaffen, Bedeutung zu erlangen; so wie Oppenheimer, sein großes Idol. Er spürte, wie ein Schaudern seinen Rücken überlief.

„Sie haben Recht, wir können nicht voraussagen, was geschehen wird.“, sagte Krassler. „Aber was ist die Alternative? Tatenlos zusehen, wie unsere Welt langsam vor die Hunde geht? Vielleicht werden zukünftige Generationen uns als Monster porträtieren, vielleicht als Helden. Doch eins steht fest:
Wenn wir nicht handeln, wird es keine zukünftigen Generationen mehr geben, die sich darüber den Kopf zerbrechen können.“
Casey merkte, wie er nickte. Konnte er sich so einfach überzeugen lassen? Krassler war so eindringlich, so leidenschaftlich, dass es schwerfiel, etwas gegen Sie einzuwenden.
„Gibt es denn wirklich keine Alternativen?“, fragte Casey in einem letzten Versuch, obwohl er in seinem Innern schon eine Entscheidung getroffen hatte.

„Sie haben Angst“, sagte Krassler. „Das ist verständlich. Aber glauben Sie mir. Ich würde Sie nicht darum bitten, wenn es einen anderen Weg gäbe.“ Krassler trat noch näher an ihn heran:
„Casey, Sie können diese Welt vor ihrem Untergang bewahren. Lassen Sie uns gemeinsam in die Geschichte eingehen.“ Ihre Stimme vibrierte vor Intensität.
Er würde die Menschheit retten, dachte Casey. Er, Casey Statton, würde in die Geschichte eingehen als der Mann, der den Klimawandel besiegte.
Und als der Mann, der die KI auf die Menschen losließ, hörte er eine leise Stimme in seinem Inneren flüstern. Doch sie wurde übertönt von seiner Euphorie und seinen Vorstellungen der eigenen Großartigkeit.

.

Casey verließ den Besprechungsraum vertieft in seine Gedanken und war überrascht, als er vor der Tür seines Kellerbüros zum Stehen kam. Er öffnete die leise quietschende Tür und trat ins Innere des kleinen Raums, in dem er die letzten Jahre sein Dasein gefristet hatte.
Hatte auch Oppenheimer diese Mischung aus Faszination, Ehrfurcht und Entsetzen gefühlt, bevor er mit dem Bau der ersten Atombombe begann? Ein Gedanke schoss durch seinen Kopf. Du könntest dies alles zerstören. Bevor es zu spät ist. Bisher weiß niemand außer dir, wie es funktioniert.
Doch er wusste, dass er es nicht tun würde.
Schweigend verließ er den Raum und schloss dir Tür hinter sich. Immer noch in Gedanken an Oppenheimer verließ er das Gebäude.
Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer von Welten.

Autorin / Autor: Niklas Bub