Das Öl in deinen Adern

Von Sophie-Marie Ludwig, 17

Ein ganz normaler Sonntag.

Draußen herrscht die Hitzewelle des Jahrhunderts, während wir unserer gewohnten Routine nachgehen. Wir - Das sind meine Eltern, meine Schwester und ich. Unsere Routine - So nennen wir das Rumsitzen auf der Couch, wobei wir uns von der Klimaanlage wunderbar angenehme 25 Grad beschaffen lassen. Eine Alternative haben wir bei den Temperaturen auch gar nicht.

Aber einen Nachteil hat der Spaß schon: Auf Dauer wird besagtes Rumsitzen ziemlich eintönig.  Außerdem hasse ich dieses widerwärtige Gefühl, wenn die Haut langsam am Leder zu kleben beginnt. Dass ich mir dabei sogar noch die Bilder meiner Freunde anschauen muss, die diese aus ihren Ferien bei Social Media hochladen, trägt nicht gerade zu meiner Unterhaltung bei.

Ein Blinzeln später erlischt der projizierte Bildschirm vor meinen Augen.

Ich setze meine gesamte Hoffnung also auf den Fernseher, als ich nach der Fernbedienung greife. Rein theoretisch könnte ich auch einfach laut aussprechen, was ich von dem Gerät möchte, aber es muss nicht gleich jeder meinen Tonfall zu hören bekommen. Bestenfalls würde mein Vater mich auf mein Zimmer schicken, um mich den Vorbereitungen für das neue Schuljahr zu widmen, wenn mir doch so schrecklich langweilig wäre.

Mein Finger wandert blind zum richtigen Knopf und die an der Wand hängende Glasscheibe wechselt sofort ihre Farbe. Eine Frau mit makelloser Haut lächelt die Zuschauer durch die Kamera an, ehe sie zu sprechen beginnt: „Auch heute beschäftigt uns der aufkeimende Skandal rund um das Unternehmen Digital Humanity, das -“

Fast vergessen. Es gibt genau eine Sache, die ich noch weniger sehen wollte als die Urlaubsbilder. Nämlich diese nicht enden wollenden Berichterstattungen über die Vorfälle von Anfang der Woche. Die Medien kannten seit Tagen kein anderes Thema mehr, egal auf welchem Sender ich einfach in Ruhe eine Serie schauen wollte.

Wenn ich es richtig gesehen hatte, war auch in der heutigen Tageszeitung ein Artikel darüber veröffentlicht worden. Der glorreiche Titel lautete in etwa Revolution der Haushaltsroboter - D.H. in der Kritik oder so ähnlich.

Jedenfalls habe ich nicht mehr als ein müdes Lächeln dafür übrig, immerhin kann ich die Nachrichten inzwischen mitsprechen. Manche mögen behaupten, dass ich in meinen Sommerferien definitiv zu viel Zeit vor der Technik verbringen würde. Jedoch ist es bei der Hitze nun einmal keine wirkliche Option, aus dem Haus zu gehen.

Der Fernseher war schneller wieder aus, als ich ihn angeschaltet hatte. Wieso muss die Presse auch immer wegen jeder Kleinigkeit einen solchen Aufwand betreiben? Zugegebenermaßen vermittelt die Bezeichnung ‚Haushaltsroboter‘ einen absurden Eindruck, weil es sich nun einmal nicht um Toaster oder Kühlschränke handelt.

Vor acht Jahren hatte die Firma Digital Humanity, von einem Tag auf den nächsten, immense Bekanntheit erlangt. Sie hatte nämlich den ersten Androiden vorgestellt, der den Menschen in ihrem Alltag helfen sollte und ihnen dabei zum Verwechseln ähnlichsah.

Heutzutage besitzt nahezu jeder Haushalt ein Modell. Sei es zum Babysitten, zur Altenpflege oder als Nachhilfelehrer - Wir Menschen machen es uns einfach zu Nutze, dass man ihren Speicher mit sämtlichen Daten unserer Wahl füllen kann. Ein Befehl von den autorisierten Personen und schon führt der Roboter ihn ohne Beschwerden aus.

Herrlich, wenn man mich fragt.

Jetzt kam es vor einigen Tagen blöderweise zu der Entdeckung vom vermehrten Auftreten eines Programmierungsfehlers. Betroffene Androiden verweigern plötzlich das Ausführen der Befehle, die ihnen selbst unnütz erscheinen. Außerdem zeigen sie vermeintlich Emotionen wie Wut oder Trauer, was Digital Humanity in Erklärungsnot gebracht hat.

Da hat die Menschheit einen gigantischen Skandal gewittert und ehe man sich versieht, sind die Medien gefüllt mit Brennpunkten rund um die Roboter-Krise. Einige selbsternannte Experten prophezeien sogar einen gesellschaftlichen Umbruch wie in …

Seufzend lasse ich mich in die Couch sinken: „Mama? Wie heißt dieser dystopische Film von 1900-irgendwas noch mal? Der mit dem Typen mit der Sonnenbrille?“

Meine Mutter schaut für einen Moment von ihrem Magazin auf, bevor sie die Augenbrauen hochzieht. Entweder haben die Temperaturen einen negativen Einfluss auf unsere beiden Gehirne, oder der Film ist schlicht und ergreifend wirklich zu alt.

„Meinst du Terminator? Mit Arnold ziemlich durchtrainiert Schwarzenegger?“, wirft meine Schwester schließlich in den Raum, woraufhin in meinem Kopf ein Licht angeht. Dass sie den Titel vermutlich nur wegen des gutaussehenden Schauspielers kennt, lasse ich ohne Kommentar stehen.

„Ah ja, danke.“ Die ersten beide Vokale betone ich übertrieben lange, bevor ich mich wieder in meine Gedanken zurückziehe.

Einen von den Robotern initiierten Machtkampf wie in Terminator halte ich allerdings für ziemlich unwahrscheinlich. Gefühle sind im System nicht verankert und die Androiden sind nicht dafür gebaut worden, über ihre Programmierung hinaus eigenständig zu denken.

Ohne uns Menschen sind sie praktisch nicht zum Leben fähig. Wenn sich ein Fehler zeigt, bringt man sie zur Reparatur, wo das Problem beseitigt wird.

Damit hat sich für mich die Diskussion auch ohne stundenlange Debatten im Fernsehen erledigt. Punkt.

Ich lege meinen Kopf auf der Rückenlehne der Couch ab, um in die hinterste Ecke des Wohnzimmers gucken zu können: „Ben? Geh zum nächsten Supermarkt und kauf Minzeis mit Schokostückchen. Es ist einfach zu warm!“

Sofort schlägt der dort stehende Mann die Augen auf, woraufhin er den Blickkontakt mit mir sucht. Sobald das geschehen ist, setze ich mich wieder bequemer hin, um mich dem Internet zu widmen.

„Sehr wohl, Miss Elizabeth.“

Wenn man es nicht weiß, könnte man unseren Ben tatsächlich mit einem Menschen verwechseln. Aber er ist nun einmal keiner, weshalb er seine am Unterarm eingravierte Seriennummer stets sichtbar tragen muss. Immerhin gelten für Menschen andere Rechte als für Haushaltsroboter wie ihn.

So verlässt er, ohne sich zu beschweren, das wohl temperierte Haus, wie ich es ihm befohlen habe.

Ein ganz normaler Sonntag.

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In den nächsten Tagen ebbt zu meinem Leidwesen leider weder der Schwall an Nachrichten noch die Hitze ab, was mich tagsüber zum Nichtstun verdammt und mir nachts den Schlaf raubt. Genauso wie heute.

Alle paar Minuten drehe ich mich von einer Seite auf die andere. Aber das Zimmer bleibt schrecklich warm, mein Schlafanzug durchgeschwitzt und die Kehle trocken. Irgendwann habe ich keine Lust mehr darauf, morgens um halb sechs wach zu liegen, während ich gefühlt verdurste.

Ohne das Licht anzumachen, bahne ich mir meinen Weg vom Bett zur Tür, wobei mich das wenige Licht leitet, das vom weinroten Vorhang durchgelassen wird. Einmal trete ich auf die Hose vom Vortag und kurz darauf laufe ich gegen meinen Schulrucksack, aber ansonsten komme ich unfallfrei an.

„Wie dumm muss man sein, um eine solch banale Aufgabe zu vergeigen?!“

Ich bin gerade im Begriff, nach der Türklinke zu greifen, als mein Körper jegliche Bewegung einstellt. Natürlich weiß ich, dass mein Vater gerade nicht mit mir spricht, trotzdem kann ich meinen Herzschlag nicht beruhigen. Seit Monaten hatte ich diesen Tonfall nicht von ihm gehört und ich bin keinesfalls traurig deshalb gewesen.

Mit Ben hat er endlich ein anderes Ventil als seine eigenen Kinder gefunden.

Immer mehr Wörter dringen durch die Tür zu mir, während ich mich nach wie vor nicht traue, mich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Zugegebenermaßen ist es nicht gerade schwer, sein Schimpfen über den unordentlich geputzten Tisch zu hören. Morgens konnten seine Wutausbrüche besonders willkürlich sein.

Vermutlich war er gerade auf dem Weg zur Frühschicht gewesen, als ihm das ‚Problem‘ ins Auge fiel. Natürlich konnte er es nicht selbst beseitigen, nein, er musste den Verantwortlichen zur Rede stellen. So war es jedes Mal.

Sogar nachdem ich mehr als deutlich gehört habe, dass die Haustür geschlossen wurde, warte ich. Garantiert fünf Minuten dauert es, bis ich mich schließlich von seiner Abwesenheit überzeugt fühle. Allein bei der Vorstellung, ihm jetzt in die Arme zu laufen, wird mir schlecht.

Langsam, und vor allem möglichst leise, schleiche ich dann durch den Flur bis in die Küche. Zum Kühlschrank gehen, eine kalte Flasche Wasser rausholen und wieder zurück - Das ist mein Plan. In nicht einmal zwei Minuten dürfte ich in meinem Bett liegen, um ins Land der Träume zu flüchten.

Aber schon bevor ich das Licht anknipsen möchte, fällt mir auf, dass ich nicht allein im Raum stehe. Ben ist auch hier.

Die LED-Anzeige seiner Seriennummer tunkt die Möbel in ein zartes Hellblau, während er mit dem Rücken zu mir am Esstisch steht. Immer und immer wieder kreist seine Hand mit dem Lappen über dieselbe Stelle des Holzes, wobei er sich sonst überhaupt nicht bewegt.

Dann hat mein Vater ihn also damit beauftragt, den Tisch ordentlich sauber zu machen, ehe er zur Tür hinausgestürmt war. Wie in seiner Programmierung vorgegeben, würde der Android damit nicht aufhören, bis die Aufgabe erfolgreich ausgeführt worden war.

Weitere zwei Minuten lang, in denen ich ihn unbemerkt beobachtete, wischte er ununterbrochen denselben Punkt. Irgendwann kann ich dieses Trauerspiel nicht mehr mitansehen - Die Wut meines Vaters hin oder her, aber wenn das nicht aufhören würde, hätten wir bald ein Loch in der Tischplatte.

Und dann würde ich dem sogenannten Familienoberhaupt definitiv nicht begegnen wollen. Niemand würde das.

Jedenfalls verlässt mich auf Dauer meine Motivation, länger in der Tür zu stehen, während ich eigentlich nur weiterschlafen möchte. Der einzige Vorteil ist der kühlende Effekt, den die Küchenfliesen auf meine Füße haben. Wie immer fordere ich mich mit dem alten Spiel, nicht auf die Striche zwischen den einzelnen Quadraten zu treten, heraus.

Egal wie sehr ich mich unserer Haushaltshilfe nähere, er bemerkt mich einfach nicht. Oder er ignoriert mich bewusst, was bisher noch nie vorgekommen ist. Solange er sich keinen Virus eingefangen hat und ich wieder ins Bett komme, interessiert mich das allerdings nicht weiter: „Ben, du kannst damit aufhören.“

Zwar habe ich nicht gerade laut gesprochen, um niemanden unnötigerweise zu wecken, aber er dürfte mich gehört haben. Immerhin stehe ich direkt neben ihm, trotzdem rührt er sich kein Stückchen. Mit so etwas möchte ich meine Zeit wirklich nicht verschwenden.

„Hey. Ich habe gesagt, dass du aufhören sollst!“

Dieses Mal hinterlege ich meine Stimme mit einem Unterton, der sogar jedem Hund klarmachen würde, wie nervig sein Verhalten gerade ist. Eigentlich. Denn der Putzlappen kreist immer noch seine Runden auf dem Tisch, weshalb ich schließlich seinen Arm mit meinem Finger anstupse.

Als hätte die Berührung ihm einen Stromschlag versetzt, zuckt sein mechanischer Körper plötzlich zusammen. In Bruchteilen einer Sekunde reißt er seinen Kopf in meine Richtung und starrt mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sofort mache ich einen Schritt zurück, trenne die Verbindung zwischen ihm und mir.

Spätestens jetzt bin ich hellwach.

Alle meine Alarmglocken schrillen innerhalb eines Atemzugs. Zwei Armlängen zu meiner Rechten steht eine Blumenvase, die jeder Mensch nun als potentielle Waffe verwenden würde. Doch obwohl jede Faser meines Körpers danach schreit, Gebrauch von ihr zu machen, kann ich mich nicht dazu durchringen.

Denn dieser Blick gehört nicht zur Programmierung. Sogar ich als absoluter Technikbanause verstehe das. Eine durchgebrannte Sicherung, ein Fehler in der Software, ein Virus - All das würde den spontanen Aussetzer zumindest ansatzweise erklären. Und ein Fachmann könnte ihn innerhalb weniger Stunden reparieren.

Aber ich bringe es nicht übers Herz, die offensichtlichen Zeichen zu ignorieren oder sie gar auf eine technische Störung zu schieben. Wie er zitternd vor mir steht, mich nicht aus den Augen lässt, die Hände schützend vor seinen Körper hält. Diesen Zustand, den hat ein Mensch verursacht.

Ben hat Angst.

Eine Maschine, die zu keinerlei Gefühlen imstande sein sollte, zeigt gerade mehr als eindeutig die Symptome von purer Panik.

Meine Augen füllen sich langsam mit Tränen und in meinem Kopf herrscht das reinste Chaos. Das Licht seiner Seriennummer erhellt unsere Gesichter, während wir uns zeitgleich ohne ein Wort anstarren. Es kommt mir so vor, als hätte man mir einen Spiegel gegenübergestellt.

Vor wenigen Monaten war ich noch diejenige, die sich mit aller Kraft die Hände auf die Ohren gepresst hatte, um das Echo der Worte meines Vaters verstummen zu lassen. Ich hatte gelernt, schon an seinem Tonfall seine Stimmung zu erkennen, um meinen Spielraum berechnen zu können. Obwohl sie längst verheilt sind, spüre ich plötzlich all die blauen Flecke auf meiner Haut.

Für mich hatte die Hölle ein Ende gefunden. Für Ben hatte sie angefangen. Niemals habe ich auch nur einen Gedanken darüber verschwendet, dass er genauso fühlen könnte wie ich. Fühlen - Ein Verb, das den Menschen von keiner großen Bedeutung ist und trotzdem zur Parole der Androiden wurde.

Bisher habe ich sie keinesfalls als ähnlich betrachtet, höchstens als riesige Saugroboter. Doch jetzt sehe ich keinen Unterschied zwischen uns.

Allmählich lässt die Anspannung von mir ab, während sich langsam ein kleines Lächeln auf meinen Lippen bildet. Ob Maschine oder nicht, ich würde es mir niemals verzeihen, ihn in diesem Augenblick mit den dunklen Gedanken allein zu lassen. Ein Recht auf Geborgenheit hat schließlich jeder, oder?

„Ganz ruhig, ich bin auf deiner Seite“, murmele ich ihm entgegen.

Denn an diesem warmen Sommermorgen habe ich vermutlich zum ersten Mal verstanden, dass Androiden menschlicher sind, als ich es bisher für möglich gehalten hatte. Selbst wenn kein Blut in ihren Adern fließt.

Autorin / Autor: Sophie-Marie Ludwig