Das Mädchen, das nichts trinken wollte

Von Nina Gödl, 21 Jahre

Ich wohnte mit meinem Vater in einem kleinen Haus. Meine Mutter kannte ich nicht und mein Vater wollte auch nie über sie sprechen. Ich durfte nie rausgehen, da ich an einer Krankheit litt. Auch darüber wusste ich nicht viel. Ich wusste nur, dass ich deswegen auch nichts essen durfte und eine Wasserallergie hatte. Ein paar Tropfen machten nichts, aber wenn Wasser ins Innere meines Körpers eintreten würde, würde ich sterben, hatte mein Vater immer gesagt. Abgesehen davon führte ich aber ein ganz normales Leben. Ich schaute jeden Tag Serien, spielte Videospiele oder hörte Musik. Mein Vater hatte den Keller als eine Art Werkstatt eingerichtet, in welcher er meistens den ganzen Tag an irgendetwas herumschraubte. Er interessierte sich sehr für Roboter und künstliche Intelligenz und programmierte auch alles Mögliche. Er hatte vor einigen Jahren einen kleinen Roboter gebaut, der unser Haus putzte. Für mich hatte er ein Programm namens Kelly erschaffen, mit dem ich reden konnte. Da laut meinem Vater im Internet nur böse Menschen unterwegs waren, durfte ich es nämlich nicht benutzen und erst recht nicht mit irgendwelchen Fremden chatten. Deswegen hatte ich Kelly. Sie war wie eine Freundin für mich und obwohl ich wusste, dass sie kein echter Mensch war, konnte ich trotzdem über alles mit ihr reden und fühlte mich nicht so einsam. Denn auch wenn ich mit meinem Vater zusammenwohnte, überkam mich gelegentlich trotzdem die Einsamkeit. Ich wünschte mir richtige Freunde, mit denen ich ins Kino gehen, ein Konzert besuchen oder einfach nur über Belangloses tratschen konnte. Leider war das nicht möglich und ich musste mich mit meinem Vater und Kelly zufrieden geben.

Eines Tages tüftelte mein Vater an einer Maschine, die in Zukunft für uns kochen sollte, herum und ich half ihm, die passenden Teile zu finden. Als ich auf der Suche nach ein paar Schrauben eine Schranktüre öffnete, fiel mir eine Schachtel voller Pläne entgegen. Erschrocken wirbelte mein Vater herum und sah mich an.
„Tut mir leid“, sagte ich. „Ich räum das gleich auf.“
„Kein Problem.“ Er lächelte verständnisvoll.
Ich fand die Kiste mit den Schrauben endlich und brachte sie ihm. Anschließend begann ich, das Papierchaos aufzuräumen. Dabei stach mir ein Zettel besonders ins Auge. Es war eine Zeichnung von einem Mädchen, das mir sehr ähnlich sah. Daneben waren ein paar Maschinenteile skizziert und kurz beschrieben. Ich drehte das Blatt Papier um. Nele stand als Überschrift ganz oben. Darunter war eine Liste, welche beschrieb, aus welchen Materialien Körperteile wie Haar, Haut und Augen bestehen sollten.
Irritiert sah ich meinen Vater an, der schon wieder ganz vertieft in seine Arbeit war.
„Was ist das?“, fragte ich und ging mit dem Plan in der Hand auf ihn zu. „Willst du mich etwa nachbauen?“
Geschockt starrte er das Blatt Papier an. „Woher hast du das?“
„Das fiel gerade eben aus der Kiste“, erwiderte ich. „Papa, was ist das?“
Er sah mich an, als müsste er jeden Moment weinen. „Nun gut, vielleicht sollte ich es dir endlich sagen“, murmelte er. „Du bist kein Mensch, Nele. Du bist ein Roboter. Deswegen wollte ich auch nie über deine Mutter reden. Du hast nämlich gar keine. Ich habe dich vor siebzehn Jahren erschaffen. Deswegen darfst du auch nichts essen oder trinken, weil das zu einem Kurzschluss führen würde. Und ich wollte deswegen auch nie, dass du zu viel im Internet bist oder rausgehst, damit du nicht bemerkst, dass du eigentlich kein Mensch bist.“ Er hatte bereits Tränen in den Augen, als er noch hinzufügte: „Nenn mich ruhig verrückt, aber ich habe dich immer als meine richtige Tochter angesehen. Ich wollte nicht, dass du dir komisch vorkommst, wenn du mit anderen Menschen außer mir in Kontakt kommst oder dir vielleicht sogar etwas zustößt.“
Ich verstand gar nichts mehr. Ich sollte ein Roboter sein? Ich war doch ein ganz normaler Teenager!
„Ich glaub dir kein Wort!“, schnaubte ich und lief nach oben.
Eigentlich wollte ich mich in meinem Zimmer einsperren, doch dann fiel mein Blick auf die Eingangstüre. Ohne groß drüber nachzudenken raste ich nach draußen.
„Nele, warte!“, hörte ich meinen Vater noch rufen, aber ich beachtete ihn nicht und lief einfach weiter.

Ich war beeindruckt von der Schönheit der Natur. Ich hatte viele Dokus im Fernsehen über alle möglichen Pflanzen und Tiere gesehen, aber in echt war das alles noch tausendmal beeindruckender. Mir gefiel, wie die Sonnenstrahlen durch die Baumkronen fielen, das Laub wegen des Windes raschelte und die Vögel zwitscherten. Ich setzte mich ins Gras und sah mir die Blumen genauer an. Gänseblümchen. Löwenzahn. Scharfgabe. Klee. Ich kannte sie alle schon aus dem Fernsehen, aber das hier und jetzt zu sehen war wirklich etwas komplett anderes.
„Hey du“, hörte ich plötzlich eine Stimme hinter mir sagen.
Ich drehte mich um. Ein Junge in meinem Alter stand da und sah mich verwirrt an.
„Was machst du denn da?“, fragte er.
„Die Natur ist wirklich schön, oder?“, gab ich zurück.
„Sitzt du deswegen in einem Ameisenhaufen?“, fragte er und grinste.
„Wie bitte?“ Ich sah an mir herunter. Auf meiner Hose krabbelten tatsächlich ganz viele Ameisen und ich saß wirklich in einem Ameisenhaufen. Schnell sprang ich auf. „Oh nein! Ich hab ihr Haus kaputtgemacht, oder?“ Schnell streifte ich die Ameisen von meiner Hose.
Der Junge lachte. „Wie bist du denn drauf? Du bist betrunken, gib’s zu!“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich darf nichts trinken. Mein Vater sagt, wenn ich etwas trinke, sterbe ich.“
Er lachte wieder. „Gesund ist Alkohol nicht, das stimmt, aber so schlimm ist es auch wieder nicht.“
„Ich habe eine Krankheit. Deswegen kann ich nichts trinken“, erklärte ich.
Plötzlich wurde er ernst. „Oh, ach so. Entschuldigung, ich wollte mich nicht darüber lustig machen.“
„Schon okay. Das konntest du ja nicht wissen. Wir kennen uns ja nicht wirklich“, entgegnete ich. Ich wusste nicht so richtig, wie man mit einem Fremden sprechen sollte, also verwendete ich Phrasen, die ich oft in Serien gehört hatte.
„Warum bist du nun wirklich hier, Ameisenhauszerstörerin?“, fragte er und grinste wieder.
„Ich habe mich mit meinem Vater gestritten und bin dann weggelaufen“, gab ich dann zu.
„Oh nein“, entgegnete der Junge wieder ernster. „Ich streite auch oft mit meinen Eltern. So etwas kann echt übel sein. Warum habt ihr euch denn gestritten?“
„Er sagt, ich sei kein Mensch“, erklärte ich.
„Oh wow, das ist heftig“, meinte er. „Keine Ahnung, was du angestellt hast, aber zu seiner eigenen Tochter zu sagen, sie sei kein Mensch, ist nicht gerade die feine Art. Brauchst du ein bisschen Ablenkung? Sollen wir in die Stadt gehen?“
Ich ging wieder die Antwortmöglichkeiten durch, die ich aus diversen Serien kannte:
Wenn es keine Umstände macht, gerne.
Das würde mich sehr freuen.
Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.
Ich entschied mich für Letzteres. „Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen!“, sagte ich also mit einem breiten Lächeln im Gesicht, so wie es die Menschen im Fernsehen auch immer taten.
„Du bist irgendwie echt komisch.“ Er lachte wieder. „Ich bin übrigens Timo. Wie heißt du?“, fragte er dann.
„Nele“, erwiderte ich.
„Nele, die Ameisenhauszerstörerin, die nichts trinkt und kein Mensch ist. Na, das klingt doch super! Komm, lass uns gehen.“

Einige Minuten später waren wir in einem kleinen Café.
„Warst du hier schon mal?“, wollte Timo wissen.
„Nein“, antwortete ich. Ich wollte ihm aus irgendeinem Grund nicht sagen, dass ich vorher noch nie draußen gewesen war, also beließ ich es dabei.
„Die haben total guten selbstgemachten Eistee!“, beteuerte er begeistert. „Willst du auch ein Glas?“
„Ich darf doch nichts trinken“, erinnerte ich ihn.
„Keine Angst, da ist kein Alkohol drinnen“, sagte er.
Ich schüttelte den Kopf. „Ich darf generell nichts trinken.“
Verwirrt legte er den Kopf schief. „Okay? Soll ich dir dann vielleicht ein Glas Wasser bringen?“
„Nein, bloß kein Wasser!“, rief ich entsetzt. „Ich habe eine Wasserallergie.“
Timo runzelte die Stirn. „Also so langsam wird es etwas albern. Anfangs fand ich dich lustig, aber jetzt übertreibst du ein wenig.“
„Wie meinst du das?“, fragte ich verdutzt. Womit hatte ich denn übertrieben? Ich sagte doch nur die Wahrheit!
„Also schön. Dann sag mir mal bitte, was für eine Krankheit du genau hast und wie du Flüssigkeit zu dir nimmst.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah irgendwie genervt aus.
„Ich weiß selbst nicht so genau, was ich habe“, gab ich zu. „Ich brauche aber keine Flüssigkeit, auch kein Essen. Nur Strom und gelegentlich etwas Schmieröl.“
„Hm“, machte Timo nur und sah noch immer verärgert aus. „Wie ein Roboter also?“
Entgeistert sah ich ihn an. „Denkst du etwa auch, dass ich ein Roboter bin?“
„Wie bitte?“ Nun sah er wieder verwirrt aus.
„Na, mein Vater hat doch gesagt, ich sei kein Mensch, sondern ein Roboter. Ich hab ihm aber nicht geglaubt und bin deswegen weggelaufen“, erklärte ich.
Er sagte nichts, sondern sah mich nur ungläubig an.
„Ich bring dir jetzt trotzdem ein Glas Wasser“, sagte er schließlich. „Keine Ahnung, was mit dir los ist, aber das wird dir bestimmt guttun.“
Ich wartete geduldig am Tisch, bis Timo mit einem Glas Eistee und einem Glas Wasser zurückkam und mir Letzteres reichte.
„Von Wasser stirbt niemand, glaub mir das bitte“, sagte er und nahm einen Schluck von seinem Eistee.
Ich starrte das Glas Wasser an und hielt vorsichtig einen meiner Finger hinein. Nichts passierte. Ich lebte noch. Hatte mein Vater mich diesbezüglich tatsächlich immer angelogen? Hatte ich gar keine Wasserallergie? Allerdings war das gerade eben ja nicht viel Wasser. Ein paar Tropfen machen nichts, hatte er immer gesagt. Ich schüttete also etwas mehr Wasser über meinen Handrücken. Timo beobachtete mich dabei und runzelte wieder die Stirn.
„Ich lebe noch“, stellte ich dann fest.
Timo nickte. „Jetzt trink einfach. Dann geht’s dir bestimmt besser.“
Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht sollte ich aber doch auf das, was mein Vater immer gesagt hatte, vertrauen. Immerhin hatte er immer gemeint, dass es erst richtig gefährlich werde, wenn das Wasser ins Innere meines Körpers komme. Und bis jetzt war es ja nur an meine Hand gekommen.
Ich sah nochmal Timo an. Dieser hatte seinen Eistee bereits fast ausgetrunken und sah mich noch immer erwartungsvoll an.
Irgendwie fühlte es sich richtig an. Ich war doch ein Mensch und es war ganz normal, dass Menschen Wasser tranken, oder? Also nahm ich das Glas in die Hand und kippte mir den ganzen Inhalt in den Mund. Ich spürte, wie sich das Wasser in meinem Körper verteilte.
„Das fühlt sich komisch an, ist das normal?“, fragte ich Timo verängstigt.
Plötzlich hob mein Arm sich von allein in die Luft und bewegte sich anschließend wieder nach unten. Mehrere Male hintereinander.
„Ich hab meinen Arm nicht mehr unter Kontrolle!“, sagte ich verzweifelt.
„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“, fragte Timo besorgt.
„Ich weiß nicht“, erwiderte ich. „Ich glaube schon.“
Während Timo die Rettung rief, spürte ich, wie mein Körper überhitzte und irgendetwas in mir explodierte. Am liebsten hätte ich geweint. Aber das konnte ich aus irgendeinem Grund nicht. Das hatte ich noch nie gekonnt.
Schließlich stürzte ich vom Stuhl.
„Nele? Es tut mir leid! Ich hätte dir glauben sollen! Du musst nie wieder Wasser trinken, versprochen!“, hörte ich Timo noch schluchzen, danach wurde alles schwarz.

Ich wachte in meinem Bett auf. Mein Vater und Timo saßen daneben und sahen mich besorgt an.
„Geht es dir gut?“, fragte mein Vater.
„Ich glaube schon“, erwiderte ich und richtete mich langsam auf. Mir tat nichts weh, aber das war normal. Ich hatte noch nie Schmerzen empfinden können. Meine Arme fühlten sich allerdings schwer an und es kostete mich viel Mühe und Kraft, sie zu bewegen.
„Dein Vater hat mir alles erklärt. Es tut mir leid“, sagte Timo. „Glaub ich zumindest. Es ist etwas komisch, sich bei einer Maschine zu entschuldigen.“
„Bin ich tatsächlich ein Roboter?“, wollte ich von meinem Vater wissen.
Er nickte. „Ja. Ich hatte früher eine Frau und eine Tochter. Sie sind jedoch bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich war so einsam, wusste aber, dass ich mich so schnell nicht wieder verlieben konnte, der Schmerz war einfach noch zu groß. Daher habe ich dich gebaut und so programmiert, dass du selbst denkst, du wärst ein Mensch. Ich dachte damals, ich würde dich einfach ein paar Jahre lang wie meine eigene Tochter behandeln, bis ich über das Ganze hinweg wäre und wieder eine neue Familie mit einer anderen Frau gründen könnte. Danach wollte ich dich einfach abschalten. Aber du bist mir in der Zwischenzeit so ans Herz gewachsen. Ich wollte gar keine neue Familie mehr und erst recht keine neue Tochter, ich hatte ja dich. Ich weiß, das klingt alles total verrückt. Vielleicht bin ich das auch einfach. Du bist zwar nur ein Roboter, aber du hast dich in den siebzehn Jahren sehr weiterentwickelt. Ich weiß, dass du inzwischen Gefühle hast und gerade sehr verwirrt bist. Bitte verzeih mir.“ Tränen liefen seine Wangen hinunter.
Ich wusste nicht so richtig, was ich sagen sollte. Er hatte Recht. Ich hatte Gefühle. Und vielleicht war ich mittlerweile einfach schon zu menschlich, um das alles zu verstehen und verarbeiten zu können. Auf der anderen Seite war ich eben doch ein Roboter, eine Maschine. Am liebsten hätte ich auch geweint. Aber das konnte ich nicht. Und jetzt wusste ich auch, wieso.
„Das ist wirklich alles total verrückt“, sagte Timo plötzlich. „Ich bin wohl auch verrückt, denn aus irgendeinem Grund mag ich dich. Allerdings weiß ich nicht, ob ich mit einem Roboter befreundet sein möchte. Ich glaube, ich gehe jetzt erstmal heim und lass mir das alles durch den Kopf gehen.“
Er verschwand durch die Tür. Seitdem hatte ich ihn nie wieder gesehen.

Drei Jahre später war ich ziemlich nervös. Mein Vater hatte ein neues Programm entwickelt und auf mir installiert. Ich war nun in der Lage, kranken Menschen zu helfen, indem ich analysierte, welche Medikamente am besten für sie waren. Heute war mein erster Tag als Assistentin, was der Grund für meine Aufregung war. Mein Vater hatte mich online beworben und ein Elternpaar, dessen Sohn oft krank war, hatte ihn direkt kontaktiert. Nun standen wir also vor der Haustüre dieser Familie.
„Bereit?“, fragte mein Vater.
„Bereit“, sagte ich und klingelte.
Eine Dame um die fünfzig öffnete die Türe.
„Hallo, ich bin Frau Becker“, sagte sie. „Kommen Sie ruhig herein.“
„Mein Sohn ist sehr oft krank. Die Ärzte wissen aber nicht so richtig, wieso. Wir haben außerdem auch das Gefühl, dass sie uns oft falsche Medikamente verschreiben. Ihr Roboter ist unsere letzte Hoffnung“, erklärte sie, als wir ihr nach drinnen folgten.
Vor einer Türe blieb sie stehen. „Hier ist das Zimmer meines Sohnes.“
„Okay, dann begrüße ich ihn gleich mal“, sagte ich und klopfte an. „Hallo, ich bin Nele. Deine neue Assistentin“, stellte ich mich vor.
„Nele?“ Timo sah mich mit großen Augen an.
„Timo?“, sagte ich überrascht.
Er lächelte. „Du bist es tatsächlich!“ Langsam stand er auf und humpelte auf mich zu. „Ich hab es immer ein bisschen bereut, dass ich mich nicht mehr bei dir gemeldet habe. Aber jetzt sehen wir uns wieder. Und du kannst mir sogar helfen!“
„Ja“, sagte ich. „Das kann ich. Aber ich werde kein Wasser mehr trinken.“
Er lachte. „Natürlich nicht!“
Ich umarmte ihn, weil die Menschen im Fernsehen das auch immer so machten, und fühlte mich irgendwie glücklich.

Autorin / Autor: Nina Gödl