Das Kind der Roboter

Von Klara Luise, 16 Jahre

Unsere zitternden Hände waren das einzige Zeichen der stetigen Angst, die uns verband. Vorsichtig legte ich die kleinen Patronen neben mich auf den Boden und ergriff seine Hand. Er war zu jung für diese schreckliche Welt. Ein Windstoß fegte zu uns in den Turm hinein und automatisch verfestigte er den Griff um meine Hand. Die Patronen rollten auf dem steinernen Boden umher, ehe sie in einer Kerbe stecken blieben. Ich atmete zitternd aus. Heute war ich Teil der Wache. Irgendwo knackte es und aufgeschreckte Vögel flogen kreischend in den Himmel, das Gewehr lag schwer in meiner Hand. Ich blickte neben mich. Er war eingeschlafen, hier im Turm in Mitten der Gefahr.

Mit einer Hand fuhr ich über sein braunes Haar. Mit seinen sechs Jahren hatte er schon so viel Schrecken und Leid erfahren müssen. Die Ermordung seiner Eltern, die ganzen Kämpfe und das Leben in Angst. Mein Blick wanderte zu meiner Uhr. Es war zwei Uhr nachts, direkt wurden mir auch anderen Informationen zu diesem Zeitpunkt angezeigt. Luftfeuchtigkeit, UV-Index, Windstärke, Meldungen aus dem Kriegsgebiet von den anderen Rebellen und alles andere, was ich eigentlich gar nicht wissen wollt. Ich wollte doch nur die Uhrzeit, zwei Uhr nachts. Ich erhob mich und blickte aus dem Turm hinaus in die Dunkelheit. Meine Hände fuhren an den rauen Steinen entlang und kleine Sandkörner sammelten sich unter meinen Fingernägeln. Es war unangenehm, doch zeigte es mir, dass ich am Leben war. Hier mitten in der Wüste war dies angesichts der stetigen Gefahr durch das Entdeckt werden von beherrschten Robotern nicht selbstverständlich. Sie waren wie Menschen. Sie konnten denken, sie reagierten auf Reize, sie besaßen Sinne. Sie machten mir Angst und noch mehr Angst machte es mir, sie zu töten. Denn waren es nicht Lebewesen, die ich tötete, waren es nicht fast Menschen, die auch denken konnten und ein Recht auf Leben hatten? Ich wusste es nicht. Meine Augen wanderten wachsam umher. Plötzlich begann etwas an meinem Handgelenk zu vibrieren, ich schrie leise auf. Es war nur die Uhr, die anfing zu sprechen.

"Nachricht von den Großen: Wir sind bis Kaskarda vorgedrungen. 500 Getötete auf unserer Seite. Hunderte Seelenlose wurden ausgeschaltet. 1v4W und 1v1B müssen achten gegen Norden, Süden und Westen. Weitere Informationen: Erste Kinder von den Seelenlosen im Alter von sechs bereits im Kampf. Besessenheit nicht geklärt, wird aber vermutet. Vernichtung notwendig.“

Mir stockte der Atem und Tränen stiegen mir in die Augen. Ich konnte doch keine Kinder töten. Ich wollte das hier alles nicht mehr. Es wäre doch so viel leichter gewesen, einfach aufzugeben und mich zu den ganzen Hoffnungslosen zu stellen. Es wäre so viel leichter gewesen, ich müsste nicht kämpfen, ich müsste nicht töten, aber ich würde in Schuldgefühlen ertrinken. Ich schuldete es meinen Eltern, die bis an ihr Ende gekämpft hatten, ich schuldete es der Erde, die nur noch ein großes Kriegsgebiet voller Angst und Schrecken war und ich schuldete es Tim, dessen Eltern ihr Leben für meins gelassen hatten.

Sie waren schon in Kaskarda, wir waren schon in Kaskarda. Vielleicht, so hoffte ich, ist bald alles zu Ende. Ich glaubte es mir selbst nicht, doch dieser kleine Funken Hoffnung hielt hier alle Rebellen am Leben. Die Hoffnung, dass Z getötet wird und die Besessenheit der Roboter aufhört. Viele hier hassten Roboter, die meisten haben Familienmitglieder durch Roboter verloren und waren vollgesogen von Hass. Begründetem Hass, doch konnten die Roboter doch eigentlich nichts dafür. Früher, so wurde erzählt, nach dem Aufstand der Roboter, lebten Roboter und Menschen friedlich zusammen. Die Roboter erledigten schwere körperliche Arbeiten für den Menschen zum Beispiel in den wachsenden Wüsten oder in Bergwerken und trugen einen großen Teil zur Entdeckung des Weltalls bei, weil sie keinen Sauerstoff benötigten. Es war ein ausgeglichenes Geben und Nehmen. Der Krieg ging nun schon seit zwanzig Jahren. Nie hatte ich Frieden erlebt. Ich war, wie so viele, ein Kind des Krieges. Denn den Frieden zerstörte der Hacker Z. Z wollte die Macht über die gesamte Welt. Er wollte über alle herrschen, koste es was es wolle. Um dieses Ziel zu erreichen, hatte er sich in die Köpfe aller Roboter gehackt und sie zu programmierten Kriegsmaschinen umfunktioniert. Wann immer ein Roboter einen Rebellen sah, wollte er ihn töten oder gefangen nehmen. Doch Normalfall trat der Tod des Rebellen bei einer Begegnung ein. Die Roboter hatten nur eine Schwäche, neben Viren, die wir Rebellen ja nicht erzeugen konnten. Den Anschalter, mit dem die Urroboter zum Leben erweckt wurden. Dieser befand sich am rechten Handgelenk der Roboter. Nur wenn man diesen oder in der Nähe von diesem mit einer Silberpatrone traf, dann konnte man sie ausschalten.

Die Sonne ging auf und erste Strahlen begannen sich auf dem Boden auszubreiten, vertrieben die Kälte der Nacht. Tim war noch in unser Haus ins Bett gegangen. Noch immer stand ich jedoch wachsam im Turm, jede Bewegung registrierend, obschon wir eigentlich nicht besonders achten mussten. Ich befand mich im 2v4W also dem zweiten von vier Dörfern in der Wüste. Wir, die normalen Rebellen ohne leitende Positionen, waren abgeschnitten von der Außenwelt und hatten nur das Nötigste.

Endlich hörte ich, wie eine Person zu mir hoch auf den Turm stieg. Ein "Morgen" wurde genuschelt und ich wurde abgelöst. Vorsichtig stieg ich die Sprossen der Leiter herunter, den morschen Holzstücken auf ihre Fähigkeit mich zu halten nicht trauend. Als ich unten war und über den Vorplatz ging war die Sonne noch angenehm, doch in wenigen Stunden würde sie anfangen auf den Platz zu brennen und alles und jeder würde versuchen vor ihr zu fliehen und Schutz in Häusern oder Schatten suchen. Ich öffnete die hölzerne Tür des kleinen Hauses, das Tim und ich zusammen bewohnten. Eigentlich konnte man es nicht als ein Haus bezeichnen. Es bestand aus zwei Zimmern, einem Schlafzimmer, dass gleichzeitig als Esszimmer, Wohnzimmer und Küche fungierte und ein Bad, dessen Abwasser kurz hinter das Dorf in die Erde geleitet wurde. Es war nicht fortschrittlich, es war eine Steinzeitlebensweise die wir führten, doch sollte es so weniger auffällig wirken. Essen konnte man sich nur zu bestimmten Zeiten an dem Hauptgebäude abholen, und das, was wir bekamen, waren künstliche Lebensmittel, die alle gleich schmeckten.

Seufzend ließ ich mich auf das harte Bett fallen. Immerhin hatten wir ein Bett, es gab Zeiten, an denen ich nahe am Kriegsgebiet lebte und die Verletzten versorgt habe, dort musste ich in einer Höhle schlafen, ohne Bett und Wasser. Ich habe gelernt, dass erst wenn man alles einmal nicht mehr hat man zu schätzen beginnt, was man hatte und bekommt.

"Lissy", eine kleine, warme Hand fuhr über meine Wange und ich wurde sanft aus meinen Träumen gerissen.

"Lissy, kommst du nach draußen spielen?", fragte mich eine junge Stimme. Ich schlug die Augen auf und blinzelte, um mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Ich setzte mich auf und rieb mir die letzten Schlafkörner aus den Augen. Dann begann ich seine Frage zu verarbeiten. Wir konnten nicht nach draußen spielen und das wusste Tim.

"Tim.. ", setzte ich an.

"Lissy bitte", unterbrach er mich und sah mich flehend an.

Das schlechte Gewissen machte sich in mir breit.
Schon seit Wochen, seit Monaten wollte Tim draußen spielen und jedes Mal verbot ich es ihm wieder und wieder. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Auch ich war Kind des Krieges, aber immerhin hatte ich meine Eltern und Freunde, mit denen ich in einer speziellen Einrichtung für Kinder damals spielen konnte. Tim war der Einzige in seinem Alter hier und hatte nur mich. Er tat mir Leid. Eigentlich mussten wir ja nicht speziell achten und in der Höhle, die sich ganz in der Nähe des Dorfes befand war Tim vor den Blicken anderer Rebellen oder Robotern geschützt. Da wir nicht besonders aufpassen mussten wäre doch heute der beste Zeitpunkt davon ausgehend, dass es immer schlecht ist.

"Eine Stunde Tim", gestand ich ihm zu, obschon mir nicht ganz wohl bei der Sache war und es eigentlich leichtsinnig war. Tim aber stieß einen Arm in die Luft und hüpfte kreischend hin und her. "Danke Lissy, danke danke danke", er schlang seine Arme um mich und alleine für diesen Anblick war es mir das Wagnis schon wert gewesen, ein Lächeln stahl sich auf mein Gesicht.

Ich stand auf und band mir meine dicken, langen Haare zu einem Zopf.

Ich schaute auf meine Uhr. Wenn wir uns beeilten, konnten wir es noch schaffen. "Komm", ich streckte Tim meine Hand hin, welche er sofort ergriff. Immer noch zierte unglaubliche Freude sein Gesicht. Als wir aus der Tür traten, flog mein Blick direkt zum Turm. Keine Wache war zu sehen, wahrscheinlich saßen sie alle im Inneren des Turms an seine kühle Mauer gelehnt und suchten Schutz vor der Sonne, nachlässig, weil uns keine unmittelbare Gefahr angesagt wurde. Wir gingen im Schatten bis ganz an den Rand des kleinen Dorfes, natürlich begegneten wir niemandem. Jetzt mussten wir aufpassen. Es war 15:59 Uhr. Wir konnten nur unbemerkt abhauen, wenn wir genau zur vollen Stunde den immer überwachten Kamerabereich passierten. Denn zur vollen Stunde wechselten die Wachen im Kontrollzentrum. Den Bereich, den die Kamera aufzeichnet kannte ich genau. Stunde um Stunde hatte ich schon vor den großen Monitoren gesessen und den Sandkörner beim liegen zugesehen und darauf gehofft, dass etwas passiert.

Der Sekundenzähler raste voran. 15 Uhr 59 Minuten und 50 Sekunden. Ich drückte Tims Hand fest und wir rannten los. Die Sandkörner knirschten unter unseren hektischen Schritten und wurden in die Luft gewirbelt. Wir zogen einen Sandkornregen hinter uns her und das Gefühl von Freiheit erfasste mich. Ich stieß einen unterdrückten Schrei aus. Immer wieder sprangen wir Hand in Hand über kleinere Felsen bis wir in der Höhle stoppten. Unsere lauten Atemzüge und unser Lachen hallten an den Wänden wieder.
Wir blickten uns um. Die eigentliche Höhle hatte glatte Wände, aber es lagen überall verstreut Felsen verschiedener Größen mit Ecken und Kanten herum. Es sah aus, als hätten Riesen ein Spiel gespielt und die Spielsteine wahllos hier verteilt.

"Das war toll. Lissy, komm lass uns doch bitte verstecken spielen.", jauchzte Tim vor Freude und von Spaß gepackt. Es erwärmte mein Herz ihn so voller Lebenslust zu sehen.

"Klar", stimmte ich seinem Vorschlag zu, "aber wir bleiben in diesem Höhlenraum", schränkte ich den Bereich ein, da noch mehrere Gänge tiefer in den Steinberg führten. Ich konnte es nachvollzeihen, dass er die Stunde, die uns in der Freiheit blieb, voll ausnutzen wollte.

"Ich zähle bis Dreißig. Versteck dich Lissy."

Mein Blick wanderte herum, auf der Suche nach einem guten Versteck. Ein größerer Felsen fiel mir ins Auge und ich kauerte mich hinter ihm zusammen.

"Ich komme Lissy", schrie Tim und seine leisen Schritte gingen von meinem Versteck weg. Nachdem einige Sekunden verstrichen waren lugte ich vorsichtig hinter dem Stein hervor, ich sah Tims Rücken hinter einigen Felsen nach mir suchend. Leise kichernd kauerte ich mich wieder zusammen. Der kalte Boden unter meinen Knien war rau und ich wusste, dass wenn ich aufstehen würde kleine Abdrücke, wie Sandkörner, vorfinden würde.

Gerade als ich meine alte Position komplett eingenommen hatte ertönte ein Schrei: „Lissy Hilfe“, ich erkannte Tims Stimme und sprang auf. Panik überflutete mich. Blindlinks rannte ich in die Richtung, aus der ich seine Stimme vermutete. Ich sah ihn nicht.

„Tim“, schrie ich voller Angst um sein Befinden.

„Lissy, Lissy ich bin hier“, antwortete er hinter mir überraschend ruhig. Nichts ließ auf seinen panischen Schrei vorhin schließen. Ich drehte mich zu ihm um. Er stand nicht weit von mir, seine Hände zitterten dennoch war seine Stimme ruhig und gefasst.

„Lissy, bitte nicht schießen“, bat er mich und automatisch wanderte meine Hand zu dem Gewehr an meinem Hosenbund. Irgendetwas hielt mich davon ab näher an ihn heran zu treten.

„Was ist los Tim“, fragte ich verunsichert. Er deutete als Antwort auf den Fels hinter sich. Vorsichtig trat ich heran, ihn misstrauisch ansehend. Dann entfuhr mir ein gleißend heller Schrei. Ich riss meine Waffe hoch und mein Finger lag auf dem Abzug bereit, ihn jede Sekunde zu drücken. „NEIN“, schrie Tim dagegen an und stellte sich vor die Gestalt, die zu meiner Verwunderung noch nicht versucht hatte mich oder ihn umzubringen. Mit eiserner Hand zog ich Tim hinter mich.

Die zusammengekauerte Gestalt vor mir war ein kleiner Roboter, er konnte kaum älter als Tim sein und sah mich aus seinen komplett schwarzen wässrigen Augen an.

„Bitte“, hauchte er.
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Langsam ließ ich die Waffe etwas sinken.

„Wer bist du, was machst du hier?“, fragte ich ihn, wohl wissend, dass ich ihn eigentlich laut unseren Anweisungen sofort hätte töten müssen. Doch schien er mir nicht gewillt uns zu töten.

„XZ3 nennt man mich. Ich verstecke mich hier.“, gab er mit zitternder Stimme zu. Ich ließ mich durch seine Angst nicht beeinflussen.

„Wie bist du hier hergekommen?“, fragte ich ihn kalt.

„Mama und Papa haben mich hier hergeschickt“.

„Mama und Papa?“, hauchte ich sein Worte fragend.

„Sie sind besessen und wollten mich davor schützen auch so zu werden. Sie hatten gehofft, dass mich jemand findet und aufnimmt“, antwortete er. Er war nicht besessen. Ich wunderte mich, ich dachte, dass alle Roboter besessen wären. Abermals ließ ich meinen Blick über ihn wandern und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Er ist sechs Jahre alt. Er ein Roboterkind der ersten Generation, die nicht getötet wurde wie alle davor. Roboterkinder sind nicht besessen. In der Nachricht, die ich heute erhalten hatte wurde gesagt Besessenheit nicht geklärt, aber Vernichtung notwendig. Tim hatte sich vor mich gedrängt und hatte die Hand seines neuen Freundes fest umschlossen. Beide Augenpaare sahen mich flehend an. Die Hände fest umklammert und die Blicke hoffnungsvoll.

Ich konnte nicht anders als sie anzusehen und ihnen zuzustimmen.


Wir hatten ihn aufgenommen. Zuerst versteckten wir ihn und dann zogen wir mehr und mehr Personen ins Vertrauen. Vertrauen wurde aufgebaut und die Rebellen in unserem Dorf bauten ihren Hass gegenüber Robotern langsam ab. Eine einzelne Träne lief mir die Wange in Erinnerung an dieses erste Treffen mit XZ3 herunter. Sie stand für den Schmerz, den mir und allen anderen Menschen und Robotern auf dieser Welt durch den Krieg zufügt wurde und für die Hoffnung die meine, Tims und XZ3s Geschichte verdeutlicht. Wenn wir, Roboter und Mensch, beide des Lebens würdig, zusammenhielten, konnte wir es schaffen Vertrauen zu knüpfen und zusammen zu kämpfen. Für uns war es ein großer Schritt, XZ3 in unser Rebellendorf zu integrieren, ihn so zu akzeptieren wie er war und alle Vorurteile zu überwinden, doch war es ein kleiner Schritt für alle Bewohner dieses Planeten in die richtige Richtung, in Richtung Frieden und Akzeptanz.

Autorin / Autor: Klara Luise