Cupid

Von Michelle Pitson, 25 Jahre

„Du solltest dich auf einer Dating App anmelden.“
Niamh reißt ihren Kopf so schnell herum, dass ihr Nacken knackt. Sie sieht Katie mit verschränkten Armen am Türrahmen angelehnt stehen.
Niamh verdreht ihre Augen und wendet sich wieder der rotgetigerten Katze auf ihrem Schoß zu. „Lieber esse ich den Bohneneintopf, den du machst”, sagt sie und kuschelt sich weiter in die himmlisch weichen Sofakissen ihres Lieblingsplatzes.
„Hey”, protestiert Katie, während sie zur Couch schlendert, nur um davor über die Ecke des Teppichs zu stolpern. „Erstens ist Bohneneintopf das einzige Gericht, was ich gut kochen kann–”
„Das denkst du”, murmelt Niamh dazwischen.
„–und zweitens, was ich damit sagen wollte, ist, dass du vielleicht mal wieder anfangen solltest, zu daten.”
Katie hebt beide Augenbrauen, als Niamh sie ansieht. Würde sie Katie schlechter kennen, würde sie vielleicht denken, dass dieser Blick so viel heißt wie: „Du sitzt jeden Abend mit deiner Katze auf dieser Couch und so langsam wird‘s traurig.” Aber sie weiß, dass es weitaus mehr als das ist. Katie will nur, dass sie nicht mehr allein ist.
„Es geht mir gut“, erwidert Niamh.
Katie lässt sich neben ihr auf das Sofa plumpsen. „Ich weiß, dass es dir gut geht. Aber du bist einsam. Du denkst vielleicht, ich bekomme das nicht mit, aber ich sehe, wie du mich und Alex manchmal anschaust.“
Niamh öffnet ihren Mund, als Katie ihr schon das Wort abschneidet. „Ich weiß, du hast Peanut und deine Freunde und die Musik. Aber wenn ich mir noch einmal dein Gejammer anhören muss, wie gerne du eine Freundin zum Kuscheln hättest, während du Chips in dich reinstopfst, dann brenne ich das Haus nieder.“
„Leicht übertrieben“, sagt Niamh nach einer kurzen Stille.
Katie verdreht die Augen, aber ein Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie schnappt sich Niamhs Handy vom Wohnzimmertisch und tippt darauf herum. „Hier”, sagt sie und hält ihr das Handy vors Gesicht.
Cupid”, liest Niamh vor und betrachtet das übertrieben pinkfarbene Logo der App. Es löst sich auf, als Katie drauf tippt, und hinterlässt drei leere Felder zur Anmeldung.
„Wenn du dich angemeldet hast, gibts einige Fragen, die du beantworten musst. Wonach du suchst, was dir wichtig ist im Leben, et cetera”, sagt sie und wedelt mit ihrer Hand in der Luft herum. „Und anhand dieser Ergebnisse kalkuliert die App, wer am besten zu dir passt. Sie schlägt dir den perfekten Partner vor.”
„Okay”, sagt Niamh, leicht überfordert. Es ist nicht das erste Mal, dass sie von solch einer Dating App hört. Diese Apps gibt es wie Sand am Meer. Durch die fortgeschrittene KI-Technologie behauptet inzwischen jede App, das Beste für den User tun zu können. Das ändert aber nichts daran, dass Niamh trotzdem daran zweifelt.
„Ich kann deinem Gesicht ansehen, dass du nicht überzeugt bist”, sagt Katie und Niamh denkt gar nicht erst daran zu widersprechen. „Aber du kannst es ja einfach mal ausprobieren. Schaden würde es auf jeden Fall nicht. Wenn du mit dem Ergebnis nicht zufrieden bist, kannst du die App immer noch löschen.”
Mit diesen Worten steht Katie auf und tätschelt Peanuts Kopf. Die Katze fängt leise an zu schnurren, aber bevor sie sich in die Berührung drücken kann, zieht Katie ihre Hand zurück. „Denk wenigstens drüber nach”, sagt sie und verschwindet aus dem Wohnzimmer. Wahrscheinlich, um sich um ihre besorgniserregend große Bonsai-Sammlung zu kümmern.
Mit einem Seufzer lässt Niamh das Handy neben sich fallen. Katie hat Recht, sie ist nicht hundertprozentig überzeugt. Und trotzdem wandert ihr Blick wieder zu ihrem Handy, auf dessen Display immer noch die pinke Anmeldeseite angezeigt wird.

„Willkommen auf Cupid”, ertönt eine sinnliche und gleichzeitig robotische Stimme. Niamh verzieht das Gesicht und ist kurz davor, es sich wieder anders zu überlegen, als die KI weiterspricht.
Cupid wurde dazu geschaffen, den idealen Partner für Sie zu finden. Keine Zeitverschwendung mehr durch gescheiterte Dates, keine Blind Dates, zu denen Sie sich gezwungen fühlen. Cupid hilft Ihnen binnen weniger Sekunden, einen Partner zu finden, der perfekt zu Ihnen passt. Übereinstimmende wichtige Ansichten, der gleiche Lebensstil, die wahre Liebe. Sie werden kein böses Erwachen mehr erleben, keine Enttäuschungen, keinen Liebeskummer.”
Niamh schnauft ungläubig.
Cupid hat bisher 32,5 Millionen Menschen erfolgreich zusammengeführt. Werden auch Sie glücklich und finden Sie Ihren perfekten Partner. Beantworten Sie hierfür einfach die folgenden Fragen und lassen Sie sich verzaubern.“
Kaum ist der Satz zu Ende gesprochen, erscheint ein neues Fenster mit mehreren Feldern. Niamh beißt sich auf die Lippe, als sie ihren Namen, ihr Geschlecht und ihre sexuelle Orientierung eingibt. Sie glaubt kein Wort von dem, was ihr die KI weismachen wollte, und trotzdem stoppt sie nicht. Nach und nach werden die Fragen ausführlicher, gehen weiter ins Detail. Sie hat ein ungutes Gefühl dabei, so viel von sich preiszugeben, aber gleichzeitig weiß sie, dass sie nichts zu verstecken hat. Jedenfalls nichts, von dem die Regierung nicht schon wüsste. Trotz Datenschutzerklärungen ist der Verkauf von Daten an Dritte kein Geheimnis.
Es dauert zwanzig Minuten, bis sie endlich alle Fragen beantwortet und sämtliche Felder ausgefüllt hat. Da die App sie keine Fragen überspringen ließ, musste sie manchmal länger überlegen, bevor sie eine Antwort fand. Sobald sie bei der letzten Frage „Weiter“ getippt hat, erscheint ein Ladebildschirm mit dem pinken Logo der App. Die darauffolgende Stimme der KI erschreckt sie so sehr, dass ihr fast das Handy aus der Hand rutscht.
„Vielen Dank für Ihre Ehrlichkeit.”
Wieder kann Niamh nur den Kopf schütteln. Es klingt fast so, als hätte sie einen Business Deal abgeschlossen, anstatt sich auf einer Dating App angemeldet zu haben.
„Anhand Ihrer Antworten sucht Cupid nun passend für Sie den perfekten Partner. Dies kann einige Minuten in Anspruch nehmen. Vielen Dank für Ihre Geduld.”
Seufzend legt Niamh das Handy neben sich auf die Couch. Je mehr Sekunden verstreichen, desto lächerlicher kommt es ihr vor, dass sie soeben zwanzig Minuten damit vergeudet hat, sich auf der App anzumelden. Sie macht sich nicht vor, hierdurch wirklich die perfekte Partnerin zu finden. Sie bezweifelt, dass die Menschen, die Cupid angeblich erfolgreich zusammengeführt hat, auch tatsächlich ein Paar geblieben sind. Sie weiß von Freunden, wie es auf Dating Apps zugeht. Trotzdem kann sie den Funken Neugier, der tief in ihr schlummert, nicht auslöschen. Sie schaut immer wieder zu ihrem Handy.
„Das ist doch bescheuert”, murmelt sie schließlich und wandert in die Küche. Dort verbringt sie einige Minuten damit, sich eine Packung Instant-Nudeln zuzubereiten. Kaum hat sie sich mit der dampfenden Mahlzeit zurück aufs Sofa fallen lassen, schon greift sie automatisch nach ihrem Handy und drückt den Homebutton. Das Display leuchtet grell auf und alles, was Niamh sieht, bevor sie vor Überraschung den kompletten Becher Nudelsuppe über sich und den Teppich kippt, sind ein Bild und darunter ein Name.
Yasmine.

Yasmine ist zwei Jahre jünger als Niamh, arbeitet in einem Büro und sieht aus wie aus Niamhs Träumen geschnitzt. Ihr App-Profil wirkt rein, geradezu klinisch, so wie auch Niamhs. Persönliche Noten gibt es keine, nur Fragen, die mit Ja, Nein oder Neutral beantwortet wurden. Selbst ausführlichere Auswahlfragen erscheinen studienähnlich. Zum ersten Mal wird Niamh bewusst, wie sehr sich Cupid von anderen Dating Apps unterscheidet. Hier wählt nicht der Mensch und es gibt keine Kompromisse. Stattdessen entscheidet die KI und lässt einem keine Wahl. Wenn Yasmine auf dem Display nicht so perfekt scheinen würde, hätte Niamh die App sofort gelöscht und sie als Humbug abgetan. Aber es versteckt sich etwas in ihren Antworten – Hund oder Katze? Katze; Wie oft lesen Sie in der Woche? Jeden Tag ; Welches von diesen klassischen Stücken sagt Ihnen am meisten zu? Klaviersonate Nr. 14 in cis-Moll, Op. 27 Nr. 2 – Beethoven – das Neugier in Niamh weckt.
Sie zögert nicht lange, bis sie Yasmine anschreibt. Sie hält nichts davon, zu warten, um Interesse zu schüren oder dass die andere Person den ersten Schritt macht. Dafür ist sie zu neugierig.
Das heißt allerdings nicht, dass dies bei Yasmine genauso ist. Selbst zwei Tage, nachdem Niamh ihre Nachricht gesendet hat, zeigt Cupid noch immer keine Benachrichtigung. Sie kommt sich unglaublich blöd dabei vor, wie sie schließlich wieder mit Peanut und einer Tüte Chips vor dem Fernseher landet. Nichts hat sich geändert, es ist nicht mal wirklich etwas passiert, und doch fühlt sich alles anders an. Irgendwie traurig. Sie schüttelt unbewusst den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden und wendet sich voll und ganz ihrem Fernsehprogramm zu.
Nur zwei Sekunden später gibt ihr Handy ein Geräusch von sich. Niamh beugt sich vor und erhascht gerade noch einen Blick auf das Cupid-Logo in ihren Benachrichtigungen, bevor das Display erlöscht.
So schnell, wie sie kann, wirft sie die Chipstüte beiseite und schnappt sich ihr Handy. Ihre Finger tanzen über das Display, bis sie Cupid geöffnet hat und sehen kann, was die Benachrichtigung ausgelöst hat. Eine Nachricht von Yasmine: „Hallo Niamh. Ein Treffen mit dir wäre wunderbar. Was hältst du von einem Spaziergang am Meer?“

Yasmines lange braune Haare, leicht gelockt von der nassen Luft, flattern um ihr Gesicht. Ihre dunklen Augen funkeln, als sie ihre Zehen im weichen Sand vergräbt. Wie ein Kind, das zum ersten Mal am Strand ist. Sie ist wunderschön.
„Bist du gerne hier?“
Yasmine nickt enthusiastisch. „Ich liebe es!“ Sie greift in den Sand und sieht dabei zu, wie er durch ihre Finger rinnt. „Barfuß den warmen Sand spüren zu dürfen und wie das Wasser sanft meine Knöchel umspielt, ist ein Geschenk. Es gibt nichts Besseres, als die Natur so nah zu erleben.“
„Nichts Besseres, hm?“, neckt Niamh und lächelt amüsiert.
Yasmines Wangen werden augenblicklich rot. Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen. „Tut mir leid“, murmelt sie. „Ich weiß, dass ich oftmals zu viel bin.“
Yasmine lässt ihre Hände sinken und offenbart heruntergezogene Mundwinkel. Der Anblick verursacht ein flaues Gefühl in Niamhs Magen.
„Hey“, sagt sie und berührt sanft Yasmines Schulter, sodass diese zu ihr schaut. „Wer auch immer das gesagt hat, ist ein Idiot, okay? Du bist nicht zu viel. Du bist genau richtig, wie du bist. Lass dir niemals etwas anderes einreden, okay?“
Yasmine nickt. „Okay.“ Ein etwas zögerliches, aber atemberaubendes Lächeln bereitet sich auf ihren Lippen aus. Niamh wünscht sich, sie könne es jeden Tag bis an ihr Lebensende sehen. Vielleicht ist Cupid ja doch so erfolgreich, wie die KI behauptet hat.

Niamh wacht davon auf, dass Yasmine sie sanft beiseiteschiebt. Es ist bereits dunkel draußen und der Film, den sie vorhin angefangen hatten, läuft immer noch. Yasmine steht hastig auf und stolpert dabei fast über Niamhs Füße.
„Was ist los?“, murmelt Niamh. Sie reibt sich die Augen und schaut an Yasmine hoch, deren Hände sich zu Fäusten ballen und wieder lösen.
„Nichts“, sagt sie, aber ihre Augen huschen hin und her. Niamh weiß sofort, dass sie lügt.
„Bullshit.“
Yasmine zuckt zusammen. Sie versucht nicht zu widersprechen. „Ich muss jetzt gehen.“
Bevor sie dies tun kann, greift Niamh nach ihrem Handgelenk. „Yasmine. Was ist los?“
„Nichts. Ich muss jetzt gehen“, beharrt Yasmine, aber ihre Stimme klingt verzweifelt und zittert dabei.  Niamh hat sie in den vier Monaten, die sie sich schon kennen, noch nie so gesehen. „Bitte.“
Unbehagen und Sorge machen sich in Niamh breit. Sie richtet sich auf und lässt Yasmines Handgelenk dabei los.
„Bitte“, wiederholt Yasmine, aber sie versucht nicht einmal, zu gehen.
„Es ist okay. Was immer es auch ist, es ist okay.“
Zu Niamhs Entsetzen füllen sich Yasmines Augen mit Tränen. „Es ist… es ist nicht okay. Es ist… du wirst mich hassen. Du wirst mich hassen und… mich nie wieder sehen wollen. So wie alle anderen.“
„Ich werde dich nicht hassen“, sagt Niamh und streicht eine Träne von Yasmines Wange. „Und ich bin auch nicht wie alle anderen, schon vergessen?“
Yasmine schüttelt verzweifelt den Kopf. „Das hier… ist anders.“
Was ist anders? Was in aller Welt kann denn so schlimm sein, dass es dir das Herz zerreißt, es mir zu erzählen? Hast du heimlich ein Kind? Eine andere feste Freundin?“
Yasmine schüttelt heftig den Kopf. „Nein, niemals. Das… würde ich nicht… tun.“
Niamh runzelt die Stirn. Sie will gerade etwas erwidern, als ein blauer Ring rund um Yasmines Pupillen erscheint. Erschrocken weicht Niamh einen Schritt zurück. „Was…?“
Kapitulation spiegelt sich in Yasmines Gesicht. „Es ist… okay, wenn du mich… hiernach hasst.“ Ihre Stimme klingt plötzlich verändert, ohne die sonstige Wärme.
Niamh will widersprechen, aber Yasmine hält ihren Finger gegen Niamhs Lippen.
„Mein Akku… ist fast leer. Ich… brauche Energie.“
Für eine Sekunde vergisst Niamh zu atmen. „Was?“
„Ich bin… eine… Androidin“, erreichen Yasmines immer roboterhafter klingenden Worte Niamhs Ohren. Alles, was sie in diesem Moment verarbeiten kann, ist dass Yasmine Energie braucht, damit sie nicht aufhört zu existieren. Mit aller Gewalt schiebt sie ihre restlichen Gedanken beiseite. Damit kann sie sich später auseinandersetzen.
„Was kann ich tun?“

Vierzig Minuten später sitzen Niamh und Yasmine wieder nebeneinander auf der Couch. Niamh wollte, dass Yasmine sich noch länger auflädt, aber Yasmine hatte abgelehnt.
„Jedes Mal, wenn ich dir angeboten hatte, hier zu übernachten und du abgelehnt hast - war das deswegen?“
Yasmine nickt. Seitdem sie sich mithilfe von Niamhs Handykabel aufgeladen hat, hat sie Niamh nicht einmal in die Augen geschaut. Niamh versteht, warum. Androide sollten nicht fühlen können. Fortgeschrittene Modelle sehen zwar so aus wie Menschen und verhalten sich auch so, aber sie sind immer noch Maschinen.
„Deswegen trägst du deine Haare immer offen? Damit man den Schlitz zum Aufladen an deinem Nacken nicht sieht?“
Wieder ein Nicken.
„Warum hast du dich auf der App angemeldet, Yasmine?“
Plötzlich wendet Yasmine Niamh den Blick zu. Der Ring um ihre Pupillen ist wieder komplett braun. Ihre Augenbrauen sind zusammengezogen.
„Du musst nicht so tun, als sei es okay. Ich habe dich angelogen, die ganze Zeit über. Ich wollte das alles eigentlich gar nicht. Ich habe mich auf der App angemeldet, um mich normal zu fühlen, wenn auch nur für ein paar Stunden. Ich hatte nicht vor, dir so lange etwas vorzumachen, aber du warst so nett und ich dachte, ich hätte mich… verliebt. Aber ich weiß, dass das unmöglich ist. Es ist also okay, wenn du mich melden möchtest“, sagt mit einer traurigen Stimme.
Niamh denkt lange nach, bevor sie antwortet. Aber sie weiß tief in ihrem Herzen, dass es nur einen Weg gibt, den sie jetzt gehen will.
„Sind deine Gefühle echt?“
Yasmines Augen weiten sich.
„Fühlen sie sich für dich echt an? Egal, ob sie es sein sollten oder nicht?“
„Ja“, sagt Yasmine leise.
„Das reicht für mich.“ Niamh rückt näher an Yasmine heran und nimmt ihre Hand. „Es ist mir egal, dass du eigentlich keine Gefühle haben solltest. Du hast sie trotzdem und das ist alles, was für mich zählt.“
Für einen Moment scheint Yasmine geschockt, aber dann lächelt sie zaghaft. „Wirklich?“
„Wirklich“, sagt Niamh und lächelt zurück, während sie ihren Daumen sanft über Yasmines Hand streichen lässt.

Autorin / Autor: Michelle Pitson