Die Flaschenpost

Einsendung von Selina Sto., 16 Jahre

„Wie fängt man so etwas an?“, fragt ein zierliches Mädchen mit schwarzen Zöpfen und schaut nachdenklich in meine Richtung. Meine erste und beste Freundin Nieva. Wir haben uns beim Müllfischen kennengelernt. Damals waren wir beide fünf Jahre alt, wobei sie ein halbes Jahr jünger ist als ich. Ich suchte, genau wie Nieva nach gut erhaltene Plastikflaschen, damit ich sie an einen Recyclinghändler verkaufen kann, um Geld für Nahrung zu bekommen. Wir halfen uns gegenseitig, besonders ich ihr. Mit ihrer kleinen Größe kam sie nur langsam voran. Obwohl wir in einer stinkenden, vermüllten, trüben Brühe aus Undefinierbaren umherwateten, brachte sie mich mit ihrer lustigen und aufgeweckten Art zum Lachen. Mittlerweile habe ich mich schon an die Umstände des Müllfischens gewöhnt, auch wenn es unangenehm ist. In einem der Bücher aus der Schule der Hilfsorganisation, meint die Mutter zu ihrer Tochter, dass es immer schlimmer kommen kann. Aber ich glaube nicht daran. Ich kann mir nichts schlimmeres als unseren Slum vorstellen. Wir sind die letzte Haltestelle. Die Fahrt geht nur noch zurück zum Aufstieg. Wenn man denn eine Fahrkarte dafür hätte...


Nun sitzen wir in der Gasse zur Nachbarhütte und überlegen mit welchen Worten wir den Flaschenpostfinder begrüßen wollen. Nieva hofft, dass die Flaschenpost uns hilft aus dem Slum herauszukommen, indem jemand Reiches sie findet. Dann fange ich an zu schreiben, einfach darauf los und Nieva macht weiter. So wechseln wir uns immer ab:

Hallo liebe oder lieber Finder/-in,

wir freuen uns sehr, dass du unsere Flasche gefunden hast. Gut, dass du lesen kannst! Das hat meine Freundin Nieva geschrieben und ich bin Mayari. Wir sind beide 12 Jahre alt und wohnen in Manila auf den Philippinen. Uns interessiert es sehr, wo unsere Flaschenpost gelandet ist, vor allem, wie weit sie geschwommen ist. Deshalb freuen wir uns sehr, wenn wir eine Antwort bekommen. Wir freuen uns über jeden, ob jung, alt, weiblich oder männlich, Nachbarn oder Menschen auf der anderen Seite der Welt, ganz egal.

Nieva + Mayari


Ich schreibe die Adresse der Hilfsorganisation als Absender hin, rolle das Papier zusammen, stecke es in die Flasche und  schraube den Deckel zu. Schon machen wir uns auf den Weg, einen geeigneten Ort zu suchen, um die Plastikflasche ins Wasser zu schmeißen. Außerhalb des Slums finden wir einen Steg, der ins Wasser führt und schon treibt sie davon.

Die Antwort per Post kommt einige Monate später. Wir hatten die Flasche schon fast vergessen, als uns im Unterricht ein Brief in die Hand gedrückt wird. Aufgeregt auf das was uns erwartet, öffnen wir ihn und lesen:


Liebe Nieva, liebe Mayari,

ich habe eure Flaschenpost erhalten, aber auf keine schöne Art: eine Riesenschildkröte wäre beinahe unter anderem an eurer Plastikflasche gestorben. Wir vom Marine Help Institut (MHI) konnten ihr gerade noch helfen und verhindern, dass sie an einem Magen voll Plastik verhungert. Wir wissen, dass das nicht eure Absicht war, ihr nicht darüber nachgedacht und ganz andere Sorgen habt. Deshalb möchten wir euch gerne zu uns einladen, damit ihr uns bei unserer Arbeit zuschauen könnt. Anbei zwei Tickets. Die Leute der Hilfsorganisation sind euch bei der Anreise behilflich.

Cara Austen

Leiterin des Marine Help Institutes

Nun stehen wir vor riesigen Behältern gefüllt mit Wasser und in allen schwimmen, dümpeln, krabbeln verschiedene Meerestiere, die auf Hilfe angewiesen sind. Neben uns steht Mrs. Austen. Wir bekommen eine Führung durch den gesamten Gebäudekomplex und die Außenanlagen. Jeder Patient wird nach seiner Gesundung wieder freigelassen. Es gibt die unterschiedlichsten Gründe, aus denen die Tiere hierher gebracht werden. Manche sind in Ölteppiche geraten und konnten sich nicht mehr bewegen, andere haben sich in ins Meer geworfenen Fischernetzen verfangen und tragen davon tiefe Schnitte. Das alles bewegt mich sehr und ich kann nicht glauben, dass wir mit unserer Idee fast auch dazu beigetragen hätten, dass ein Tier stirbt. Ich sehe wie sich auch Nieva verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischt als uns die Geschichte von einem Seevogel erzählt wird, der in einem Tetra Pak Verschluss feststeckte und mehrere Jahre so gelebt hat.

Drei Jahre später sitze ich in meinem eigenen Zimmer und schaue mir nochmals den Zeitungsbericht an, der auf meinem Schreibtisch liegt. Ein glückliches Lächeln überzieht mein Gesicht.

Die ehemaligen Slumbewohnerinnen Nieva Cequinia und Mayari de los Santos, beide 15 Jahre alt, welche von Cara Austen, der Leiterin des Marine Help Institutes adoptiert wurden, haben in unserer Stadt ihre eigene Umweltorganisation gegründet. Seit drei Jahren engagieren die beiden Mädchen sich sehr für die Umwelt, so helfen sie auch täglich ihrer Mutter bei der Arbeit in der Auffangstation. Nun organisieren sie seit kurzem zusammen mit anderen Jugendlichen Projekte, sammeln zum Beispiel Müll vom Strand auf, aber tauschen sich auch bei regelmäßigen Treffen über ernste Themen aus. Außerdem machen sie bei Petitionen und Demonstrationen mit. Ganz toll, was Nieva und Mayari bereits alles mit ihrer Gruppe „Act now“ erreicht haben!

Autorin / Autor: Selina Sto.