Zoe und der Zaubervogel

Einsendung von Patrick Würfel, 25 Jahre

06.31 Uhr. WROOM. Der Ferienflieger nach Miami war gestartet. 06.33 Uhr. WROOM. Das war der Passagierjet aus Singapur. 06.37 Uhr. WOOSH. Der Jumbo aus Kapstadt setzte zur Landung an.

Zoe gähnte und schielte auf ihren Wecker. Noch zehn Minuten, bis sie aufstehen musste. Sie presste das Kopfkissen auf ihre Ohren. BADABOOM. Das waren die Kampfjets der Bundeswehr. Zoe seufzte. Sie stand auf und schaute nach draußen. Der Himmel vor ihrem Fenster war so grau wie die Plattenbauten. Auch der Flughafen, dessen Landebahn hinter den Häusern lag, war grau.

Schlaftrunken tapste Zoe in die Küche. Papa stand neben dem Kaffeekocher und blätterte in einer Zeitung. Mama saß in der Ecke vor dem Toaster und wiegte Benjamin in ihren Armen hin und her. „Hat er wieder die ganze Nacht…?“ Mama nickte. Zoe nahm die Cornflakes aus dem Regal und öffnete den Kühlschrank. „Oh. Keine Milch?“ Papa faltete die Zeitung zusammen. Dann deutete er auf die Flasche, mit der Mama vor Benjamins Gesicht herumhantierte, und schüttelte den Kopf.

Das WLAN war weg. Zoe entsperrte ihr Smartphone und schaltete auf mobile Daten um. Papa würde wegen der hohen Rechnung mit ihr schimpfen. Aber jetzt hatte sie wenigstens eine stabile Verbindung. Sie öffnete den Videochat. Die Lehrerin hatte vergessen die Kamera zu deaktivieren. Fasziniert beobachtete Zoe, wie hinter Frau Gottfried eine nackte Frau durch das Bild lief. Zoes Mitschüler:innen glucksten in die Mikrofone. Frau Gottfried errötete und schaltete die Kamera ab.   

Nach dem Unterricht holte Zoe den Zeichenblock und den Farbkasten unter ihrem Bett hervor. Das Papier und die Farben waren ein Geschenk ihres Großvaters gewesen, welcher im Frühjahr gestorben war. Der Großvater hatte ihr auch seinen Plattenspieler vererbt. Mama hatte das alte Ding entsorgen wollen. Aber Zoe gefielen diese seltsamen Scheiben, die man auf das Gerät legen konnte. Zu den Klängen von Glass Animals begann sie zu zeichnen.

In der Nacht wurden Benjamins Blähungen so heftig, dass Zoe von seinen Schreien aufgeweckt wurde. Mama und Papa liefen mit ihm abwechselnd durch die Wohnung und versuchten ihn mit Kamillentee und Gesängen zu beruhigen. Die Nachbarn klopften von unten an die Zimmerdecke und brüllten irgendetwas mit „Nachtruhe“ und „sonst rufen wir die Polizei“. Zoe zog sich an und legte Benjamin über ihre Schulter. Behutsam wich sie der Pfütze aus, die jemand im Treppenhaus hinterlassen hatte, während sie Benjamin in ihren Armen trug.

Die Dezemberluft war erstaunlich warm. Zu warm, dachte Zoe, und ging im Mondlicht an achtlos weggeschmissenen Bierdosen vorbei. Der Spielplatz war mit einem Absperrband abgeklebt. Zoe schlüpfte unter dem Band hindurch. Die Bank, auf die sie sich setzte, war mit Graffitis übersät.

Zoe wurde vom Zwitschern der Vögel geweckt. Sie blinzelte. Wo war Benjamin? Zoe verspürte Panik. Ihre Eltern würden ihr nie verzeihen. Wo war sie? Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen. Neben ihr rieselte ein Bach, dessen Wasser so klar war, dass ihr Gesicht sich darin spiegelte. Um sie herum erhoben sich Bäume, die in den Himmel ragten. Sie stand auf und folgte dem Bachlauf. Nachdem sie eine Weile gegangen war, kam sie an eine Lichtung. Auf der Lichtung stand eine Linde. Zoe beschloss den Baum hinaufzuklettern. Von dort würde sie Benjamin entdecken können. Obwohl die Äste der Linde sich wie eine Treppe um den Baum wanden, kam Zoe ins Schwitzen. Endlich war sie an der Spitze des Baumes angekommen. Dort befand sich ein Vogelnest. In dem Nest lag ein einzelnes Ei. Vorsichtig hielt Zoe ihre Hand an die Schale. Sie spürte den Herzschlag des Kükens darin pulsieren. Dann hupte ein Auto. Zoe schreckte von der Bank hoch. Die Sonne war aufgegangen. Benjamin war in ihre Umarmung gekrabbelt und schlief dort tief und fest. Vorsichtig schlich Zoe zurück in die Wohnung. Ihre Eltern waren auf dem Sofa eingeschlafen.

In der nächsten Nacht wachte sie neben dem Ei auf. Es hatte Risse bekommen. Ob sie das Ei kaputt gemacht hatte? Ein Küken schlüpfte heraus und krächzte. Zoe begriff, dass es Hunger hatte. Wo sollte sie Nahrung finden? Der Wald erstreckte sich unter ihr und am Horizont glitzerte das Meer. Das Küken stakste auf den Ästen des Baumes umher. Es drohte abzurutschen, aber Zoe setzte es zurück in das Nest. Da begriff sie. Sie wedelte mit ihren Armen. Und tatsächlich: Zoe flog.

Nach drei Monaten war das Küken zu einem Adler herangewachsen. Jede Nacht kümmerte sich Zoe um den Vogel. Sie brachte ihm das Jagen und das Putzen des Gefieders bei, wobei sich Letzteres aufgrund ihrer anatomischen Verschiedenheiten als besonders schwierig herausstellte.
Am Tag zeichnete Zoe den Wald und das Meer. Je mehr sie zeichnete, desto weniger Flugzeuge schienen tagsüber über das Haus zu fliegen. Weißer Schnee bedeckte das dunkle Grau. Benjamin hatte aufgehört zu schreien und sein erstes Wort gesprochen. Frau Gottfried trug jetzt einen Ring.

In der Nacht flog Zoe mit ihrem Adler über die Wälder und bis auf die eisbedeckten Spitzen der höchsten Berge. Je mehr Zeit sie in dem Wald verbrachte, desto mehr Tiere entdeckte sie. Rehe und Wildschweine, aber auch kleine Käfer und bunte Frösche und Salamander in grellen Farben. Durch das Meer schwammen Wale und Delphine und Schildkröten mit goldfunkelnden Panzern.

Als Mama ihr Zimmer aufräumen wollte, entdeckte sie die Zeichnungen unter Zoes Bett. Sie wollte Zoe zur Kinderpsychologin schicken. Papa konnte ihr dies glücklicherweise ausreden.

Zoe war mutig genug geworden, um die Zeichnungen mit ihren Freund:innen zu teilen. Diese gaben die Bilder an ihre Bekannten weiter. Nach und nach klarte der grauverhangene Himmel auf. Zu Beginn des Frühjahrs rankten sich Weinreben und grüner Efeu an den Fassaden der Häuser empor. Seit der Sommersonnenwende waren sogar die Flugzeuge verschwunden. Als der nächste Winter kam, baute Benjamin zusammen mit den Nachbarskindern seinen ersten Schneemann.

Autorin / Autor: Patrick Würfel