Gedanken über Glauben und Schmerz

Einsendung von Dat Nguyen, 20 Jahre

Alles was wir tun und denken basiert auf Glauben. Für die eine oder andere Person mag das etwas merkwürdig klingen, aber es beginnt schon mit der Beschaffenheit der Welt: dass die Welt wirklich existiert und wir nicht alle in einer Simulation leben, ist schließlich auch eine Annahme, die man nicht weiter begründen kann (philosophisch Interessierte können gerne dazu etwas zum Außenwelt-Problem im Internet finden).

Glauben, um es mal genauer und auch nicht religiös zu definieren, ist eine unbegründete Gewissheit oder eine Annahme über einen Sachverhalt in der Welt. Und so basiert auch unsere heutige Gesellschaft, auf Normen, die auch anders sein könnten (Philosophen haben dafür den Begriff „kontingent“ eingeführt). Als einfaches Beispiel nenne ich dazu mal das Töten von Menschen. Vor einigen Jahrhunderten (miterlebt habe ich das allerdings nicht) war es noch gang und gäbe, Verbrecher*innen oder Andersdenkende einfach zu verurteilen und hinzurichten. Dass es heutzutage anders ist, verdanken wir den Bemühungen der Menschenrechtsbewegung, die sich für ein würdevolles Leben aller, unabhängig der individuellen Umstände, einsetzen.

Es ist es wichtig, sich zu vergewissern, dass jede Norm kontingent und potenziell vergänglich ist. Denn obwohl unsere Gesellschaft auch anders aussehen könnte, sollten wir uns bewusst werden, warum es gut ist (was auch immer gut bedeutet), dass gewisse Sachverhalte und Normen sich durchgesetzt haben. Ein Glaube, der sich noch nicht vollständig durchgesetzt hat, ist der Glaube, dass die Natur einen eigenen Wert hat und deswegen wert ist, beschützt und nicht ausgebeutet zu werden.

Wie dem auch sei, ich befürchte, dass es schwierig ist, Menschen zu irgendwelchen gesellschaftlichen Werten zu bekehren. Aber immerhin kann man vielleicht eine psychologische Erklärung finden, warum es so schwierig ist, einen radikalen Gesellschaftswandel (den der Klimaschutz nötig hat) herbeizuführen. Ich beziehe mich hierbei auf eine Gesellschaftsdiagnose von Byung-Chul Han („Palliativgesellschaft“) und versuche diese mit dem Klimaschutz in Einklang zu bringen.

Die Gesellschaft ist im ständigen Wandel, in der Paradigmen um eine Art Vorherrschaft kämpfen. Das, worin der individuelle Glaube erwächst, ergibt sich als Resultat der Erfahrungen, die Individuen in ihrer Entwicklung innerhalb der Gesellschaft machen. Das, was ich wahrnehme, erfährt Sinn durch Sprache. Wenn ich als Kind nicht mit irgendwem gesprochen hätte, dann könnte ich mich auch nicht mit Bedeutung verständigen.

Es ist nun komplizierter wie die Bedeutung von abstrakten Begriffen (also Begriffe, die durch nichts repräsentiert werden in der Welt) entstehen. Der Begriff „Stuhl“ wird repräsentiert durch einen Gegenstand Stuhl. Doch wie verhält es sich z.B. mit dem Begriff Liebe? Um hier ein einfacheres Beispiel nennen: wenn ich glaube, zu wissen, was die Zahl „eins“ bedeutet, dann deswegen, weil meine Eltern mit Fingern auf Objekte zeigen, die einzeln sind. Mit Logik und Abstraktionsvermögen schließe ich aus der Sprache und dem Verhalten meiner Eltern, was „eins“ bedeutet. Und so verhält es sich auch mit der Liebe. Wenn meine Eltern mir Liebe vorleben, dann glaube ich erstmal zu wissen, was Liebe ist. Weitere Eindrücke wie z.B. Hollywood-Filme etablieren ein bestimmtes Bild über Liebe. Und mit dieser groben Ahnung, was für mich Liebe bedeutet, handle ich dementsprechend in der Welt (z.B. durch Liebkosen).

Doch wie verhält es sich mit dem Begriff „Schmerz“? Intuitiv, dass etwas weh tut, z.B. wenn ich meine Hand auf die heiße Herdplatte lege. Und grundsätzlich möchte ich gerne vermeiden, dass mir etwas weh tut (die meisten anderen auch). Das wirkt zugleich ein wenig paradox, denn nur wenn Schmerz da ist, kann ich erst wissen, dass etwas weh tut und nicht in Ordnung ist. Schmerz ist in diesem Sinne produktiv, denn wenn ich ihn nicht hätte, würde ich meine Hand auf der Herdplatte lassen und mir Verbrennungen zuziehen. Schmerz ist die Grundlage dafür, um reflektieren zu können, was gut und wichtig für mich ist. Ein anderes Beispiel: wenn ich Schnupfen habe, schätze ich es auf einmal viel mehr, wie es war, eine freie Nase zu haben. Doch gewöhne ich mich einmal daran, die ganze Zeit frei zu atmen, dann „vergesse“ ich, dass das keine Selbstverständlichkeit ist. Erst durch den Schmerz erfahre ich, woran ich glaube, und in diesem Fall wäre es, dass ein Mensch keine körperlichen Leiden erfahren soll.

Nun ist es so, dass die Gesellschaft zunehmend schmerzfrei wird. Wir nehmen in der Öffentlichkeit kaum noch Schmerz wahr, da er verdrängt wird. Wenn jemand (öffentlich) psychischen Schmerz zeigt, dann wird sich schleunigst darum bemüht, diesen Schmerz aufzulösen, z.B. durch Ablenkung, „Feel-Good-Einheiten“ oder sogar durch Antidepressiva. Dieses Verhalten geht mit der Annahme einher, dass die Welt im Großen und Ganzen in Ordnung ist und der Schmerz von der Person selbst herrührt. Man erinnere sich an Greta Thunberg, die beschimpft wurde für ihre schlechten, weinenden Schauspielfähigkeiten.

Der Schmerz wird nun mehr als ein individuelles Problem abgetan, doch rührt dieser doch vielmehr aus strukturellen Gegebenheiten. Das Verschwinden des Schmerzes erzeugt wieder paradoxerweise noch mehr Schmerz. Denn je weniger ich daran gewöhnt bin Schmerzen zu erfahren, desto stärker fühlt sich Schmerz an, wenn ich ihn erfahre, und umso mehr möchte ich ihn wieder vermeiden. Schmerz muss geübt werden.

Wenn wir nun aufrichtigen Klimaschutz betreiben wollen, dann ist es unvermeidbar, dass sich die Gesellschaft auf Augenhöhe mit der Natur stellt und die Vorgänge empathisch begreift. Das schließt ein, dass geübt werden muss, den „Schmerz der Umwelt“ zu spüren und ihn produktiv zu nutzen anstatt ihn zu verdrängen. Doch dazu braucht es ein Gesellschaftsklima, welches Schmerz neu denkt und ihn als wichtigen Bestandteil inkludiert und Schmerzerfahrungen wie die von Greta in die Öffentlichkeit bringt und aufarbeitet!

Autorin / Autor: Dat Nguyen