Als das Menschlein das Sehen lernte

Einsendung von Michèle Feltes, 15 Jahre

Seit dem Virus denkt das Menschlein anders. Es wurde mit Zeit überflutet und seine rasende Welt plötzlich zum Stillstand gezwungen. Normalität wurde gestohlen, Maßstäbe verschoben und neue Erkenntnisse gewonnen.

Gefangen wie ein Tier im Käfig kehrte es zu seinen Wurzeln zurück. Ausflüge in die Natur wurden wiederentdeckt. Beim Waldspaziergang öffnete sich die Seele, die vom vielen Hetzen durch Betonwelten ganz verstümmelt war. Die heilende Wirkung der Umgebung half den gestressten Gemütern sich zu erholen. Die Schönheit knorriger Rinde und smaragdgrüner Blätter wurde wahrgenommen. Das schönste Orchester von allen, das Rauschen der Baumkronen, unterstrichen durch lebendiges Vogelgezwitscher, wurde bewusst gelauscht und der federnde Waldboden erinnerte an schützende Arme, in die man sich fallen lassen konnte.
Allerdings spukten dunkle Gedanken im Unterbewusstsein des Menschleins.
War es nicht Heuchelei, sich in die sichere Umarmung des Grüns zu flüchten, wenn man selbst nichts tat, um seinen Beschützer zu schützen?
Im Kopf des Menschleins setzten sich Bilder von kreisenden Motorsägen, Waldbränden sowie achtlos weggeworfenem Müll zusammen.
Vielleicht würde sich in naher Zukunft etwas daran ändern.

Verschlafen kam das Menschlein auch dazu, die Fenster normal zu öffnen, anstatt sie vom Morgenstress gesteuert aufzureißen. Die Morgenbrise stürmte hinein und das Menschlein kam in den Genuss, das erfrischende Aroma eines neugeborenen Tags einzuatmen. Ganz verwundert war es darüber, dass der Abgascocktail der viel befahrenen Parallelstraße ihm nicht beißend in die Nase stieg. In der Stille des Morgens huschte sogar eine scheuer Fuchs zwischen den Mülltonnen zurück in sein Versteck. Durch die reine Luft glaubte es sogar, den leicht modrigen Geruch seines Fells ausmachen zu können. Die eingeatmete Klarheit gab einem ein ganz anderes Gefühl für seine Umgebung.
Allerdings spukten wieder dunkle Gedanken im Unterbewusstsein des Menschleins.
War es keine Schande, für eine solch große Luftverschmutzung gesorgt zu haben, dass die natürliche Reinheit etwas Fremdes geworden war?
Betrübt dachte das Menschlein darüber nach, wie sein tägliches Leben wieder dazu beitragen würde, dass Schmutzpartikel die Atemluft verpesteten. Es sah den Rauch schon aus Industrieschornsteinen und Auspuffen qualmen.
In naher Zukunft sollte sich sicher etwas daran ändern.

Zwischen den vielen Sorgen wurde das Menschlein vom Fernweh ergriffen. Sehnsüchtig dachte es an den letzten Urlaub am Meer zurück. Wie Touristen auf ihren Strandtüchern lagen und in der Sonne dösten. Zarte Schaumkronen sich auf den Wellenkämmen bildeten, bevor sie sacht auf einen zurauschten. Eine junge Frau kreischte kichernd auf, weil ein verirrter Fisch sanft an ihren Zehen knabberte. Lachende Kinder bauten an ihren Sandburgen, weswegen sie gierig Muscheln für die Dekoration sammelten.
Ein weiteres Mal quollen dunkle Gedanken aus dem Unterbewusstsein des Menschleins.
War es nicht paradox, Muscheln am Strand zu sammeln, wo es mittlerweile angebrachter wäre, Plastikmüll aufzulesen?
Das Menschlein schnaubte wütend, als es an eine Reportage dachte, die es sich kürzlich angesehen hatte. Es erinnerte sich an unschuldige Unterwasserbewohner, die sich in Kunstoffschlingen verfingen oder Plastikstückchen verschluckten. Der Bericht über Wasservögel, deren Federkleid mit schmierigem Erdöl verklebt waren, fiel ihm wieder ein. Das Menschlein dachte an den hoffnungslosen Meeresbiologen, der darum flehte, dass doch endlich etwas unternommen würde.
Es musste sich in naher Zukunft unbedingt etwas daran ändern!

Das Menschlein steuerte nach dem Abendessen auf den Kühlschrank zu. Es öffnete begehrlich das Gefrierfach und griff nach einem Stieleis. Ein eisiger Hauch Kälte ließ es frösteln. Auch wenn sie lästig war, dem Menschlein fiel ein, dass die Kälte anderswo fehlte. Das Schmelzen der Polkappen riss der dortigen Tierwelt regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Der Blick des Menschleins wanderte über den angeknabberten Brotlaib auf der Anrichte. Als Bäcker hatte das Menschlein sich in der Quarantäne nicht entpuppt; das Brot war so trocken und hart, dass man sich die Zähne daran ausbiss. Doch die Struktur der Kruste besaß eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Beschaffenheit des Bodens nach der Wüstenbildung. Hart, ausgetrocknet, leblos.
Schon wieder mit einer Nebenwirkung seines Daseins konfrontiert, sank ihm der Mut. Gleichzeitig stieg der Zorn.
Wie konnte es nur so blind gewesen sein? Überall, bei jedem Schritt durch seinen Alltag traf es auf sein bitteres Vermächtnis. Wieso hat es das nicht früher erkannt? Angewidert warf es sein Eis zurück ins Gefrierfach. Es war ihm schlecht, hundsmiserabel.
Doch als es sich umdrehte, schien es ihm, als ob ein zögerliches Stimmchen in seinem Kopf flüsterte. Es schüttelte verächtlich den Kopf, um diese Hirngespinste loszuwerden. Es wollte nur noch über die Zerstörung, die es angerichtet hatte, schmollen. Darüber motzen, dass es die nächste Krise verschuldete. Trotzdem gewann die Stimme an Kraft. Zwei Sätze waren es, die unaufhörlich in seinen Gedanken kreisten und es nicht mehr losließen.
Zu realisieren, welche Fehler man in der Vergangenheit begangen hat, das war der erste Schritt.
Der Wille sie zu korrigieren, die zukünftige Aufgabe.

Autorin / Autor: Michèle Feltes