Wenn das Meer stirbt, sterben wir alle

Einsendung von Daniela Gelic, 16 Jahre

Ich kann mich gut an die ersten Momente erinnern, als ich es zunächst noch zögerlich berührte und schon fast ehrfürchtig von seiner gewaltigen Kraft beeindruckt war. Immer wieder lief ich hin und staunte, wie ein kleines unerfahrenes Kind das eben so tut. Das Rauschen und seine plötzliche Schnelle verängstigten mich, doch meine Mutter nahm mich bei der Hand und führte mich ganz nah zu ihm hin. Sie sagte mir: „Du brauchst keine Angst haben, vor dir liegt das unerschöpfliche Meer. Es kann dir nichts anhaben, schau doch wie schön es ist!“ Da hatte sie vollkommen recht. Von dem Zeitpunkt an entwickelte sich meine starke Zuneigung für diesen Spiegel meines Wesens, den Ausdruck purer Freiheit und Ausgeglichenheit, an den ich nun wie durch eine Nabelschnur gebunden war. In seiner Nähe verspüre ich etwas, das sich nur schwer beschreiben lässt. Ein Regenbogen aus Glückseligkeit, innerer Ruhe, Anmut und auch aus dem Gefühl der Unerschöpflichkeit. Ich bewundere seine Stärke und Tiefe, jedoch auch seine Eigenschaft, mir Kraft zu schenken, wenn ich sie am meisten brauche. Ich kann träge im Meer liegen, dabei der bedrückenden Realität entfliehen und einfach nur für einen Augenblick innehalten. Ich fühle mich der ursprünglichen Existenz des Lebens so nah wie nie. Mit der Zeit wuchs auch mein Respekt vor seiner jahrtausendealten Präsenz und so wurde mir bewusst, was für ein endloser Reichtum und unvergleichliches Privileg das Meer für uns Menschen darstellt. Es ist der Ursprung von vielseitigem Leben, starken Naturgewalten, Energien und schließlich auch von einer ganz eigenen Unterwasserwelt. Als meine Mutter mir damals einredete, dass das Meer mir nichts anhaben konnte, erwähnte sie eine wichtige Tatsache nicht, die ich erst viel später begreifen würde: Die Menschen können dem Meer sehr wohl etwas anhaben.

Egal ob mein Freund nun Pestizide, giftige Metalle und Schmutzwasser schluckt oder durch Schutt und Trümmer droht zu ersticken, er wird heutzutage immer stärker geschädigt, sodass verschiedenste Organe dem Versagen immer näherkommen und seine Krankheit sich irreversibel ausbreitet. Es ist eine ungewöhnliche Krankheit und genaugenommen existiert sie nur einmal auf unserer Welt. So wie jede andere normale Krankheit hat sich auch diese zunächst durch Symptome erkennbar gemacht, wie dass die riesigen Ölflecken an seiner äußeren Hülle nicht mehr verschwinden wollen, oder dass mein Freund über starke Übelkeit klagt und im Minutentakt totes Erbrochenes aus seinem Inneren an den Strand spült. Sein innerer natürlicher Kreislauf weist Schwankungen auf, und das gesamte System scheint gestört zu sein. Denn das Meer hat Fieber bekommen, seine Temperatur steigt an, und das Fieber schädigt seine inneren Organe und zerstört seine Zellen: Das Plankton im Meer hat sich bereits um 40 % reduziert, hat jedoch einen wichtigen Anteil an der Sauerstoffproduktion der Atmosphäre, bindet dabei CO2 und steht am Anfang zahlreicher Nahrungsketten. Das wäre, wie wenn in meinem Körper die lebenswichtigen Sauerstoffbläschen in der Lunge fast zur Hälfte abgestorben wären. Mir fiele das Atmen schwer, ich müsste ständig nach Luft ringen und genauso ringt mein Freund nach Luft.

Besorgt um sein Wohlergehen versuchten nun verschiedene Spezialisten die Ursache der Veränderungen und der Symptome herauszufinden und machten dabei erstaunliche Entdeckungen. Die Beschwerden meines Freundes seien die Folgeschäden einer Attacke durch äußere Einflussnehmer. Die Krankheit sei unheilbar und würde sich wie ein Lauffeuer ausbreiten, wenn sie nicht schnell behandelt werden würde. Jeder einzelne sei nun gefragt, in dieser Ausnahmesituation aktiv zu helfen. Denn die Behandlung dieser besonderen Krankheit fordert das gezielte Zusammenwirken von allen Menschen, doch der Großteil der Gesellschaft zeigte keine Reaktion. Die Erkenntnis, dass wir Menschen die Bedrohung darstellen und die Angreifer sind, wird von einigen schlichtweg verdrängt. Man selbst ist die Ursache der großen Vergiftung, der stinkenden Schrotthaufen, des Kreislaufzusammenbruchs, und dennoch geschieht kaum etwas, um dieser Entwicklung ein Ende zu setzen. Für die Regeneration des Meeres ist es unzureichend, wenn nur einige Wenige ihren Lebensstil anpassen und durch ihre Erkenntnis bewusster und klüger leben, während die andere Seite der Gesellschaft von ihrer Gleichgültigkeit gelähmt ist und in ihrem Überflusswahn und Selbstbezug der Konsumgesellschaft neue Dimensionen verleiht. Dennoch blinken besagte einzelne Wegweiser in ihrer dunklen Umgebung umso heller, um Unterstützung zu bekommen, denn sie wollen die weitere Ausbreitung der Krankheit stoppen und haben sich für den minimalen Verzicht und die Selbstzurücknahme zum Wohle der Natur entschieden. Schließlich ist es absolut zumutbar, seine materialistischen Fantasien etwas zu zügeln, sich beim Kauf von Produkten auf das Nötige zu beschränken und somit die Schrottanlagerung auf den „schwimmenden Müllhalden“ zu verringern. Allgemein gesagt leben die Erleuchteten nach dem Motto „weniger ist mehr“ und können auch die Balance zwischen Übermaß und Mangel halten. In Anbetracht des elenden Zustands des Meers, sollte es selbstverständlich sein, das eigene Handeln zu reflektieren und nach schonenderen Ansätzen zu suchen. Doch das Meer wird immer weiter verseucht, somit steigt sein Fieber stetig an und eines Tages entgleitet uns das ursprüngliche Element der Erde in die ewige Ferne. Für mich persönlich bedeutet die fortgeschrittene Krankheit des Meeres Leid, denn wenn mein Freund leidet, leide ich mit. Ich spüre die starke Verbundenheit zu ihm, da ich seine belebende Kraft einst in mich aufsaugen konnte, dadurch neue Stärke und Zuversicht gewann sowie einen direkten Draht zur Natur aufbauen konnte. Doch jetzt gilt es, dem Meer dies zurückzugeben und ihm zu seiner alten Stärke und Energie zu verhelfen. Wäre es nicht schön, wenn das kleine Mädchen von früher sich über das Meer keine Gedanken mehr machen müsste?