Rhea, die Rose und Milton, der Mann

Einsendung von Valentin, 17 Jahre

Wenn Rhea lachte, weinte Milton, und wenn Rhea weinte, weinte Milton mit ihr.
Natürlich weinte sie nicht. Eine Rose konnte nicht weinen, auch nicht, wenn sie die einzig graue Rose weltweit war. Aber Milton Stewart Horter, der tote Leiter der Environmental Protection Agency, fühlte ihren Schmerz. Rhea war noch immer genau da, wo sie vor seinem Tod stets gewesen war, auf der Fensterbank seines Hauses in Washington, D.C.. Weder Rhea noch er konnten von ihrer Position einen Blick auf sein Büro werfen, den luxuriösen Raum, wo moderne Technik und antiker Zinnober eine Symbiose miteinander eingegangen waren. Sie sahen weder den altarähnlichen Schreibtisch, noch Miltons Leiche, die an ihm saß. Aus ihrer Position sahen sie nur das, was einst Miltons Garten gewesen war. Nun war es eine kleine Wüste; eine von vielen im District of Columbia. Das Gras war gelb, und die ehemals roten Rosen ließen ihre Köpfe hängen wie trauernde alte Witwen. Der Klimawandel hatte weder Geduld noch Gnade gezeigt, er war munter weiter vorangeschritten und hatte weder diejenigen beachtet, die ihn hatten stoppen wollen, noch die, die die Mitschuld der Menschen an ihm bezweifelt hatten. Umgekehrt hatte man den Klimawandel ignoriert, fröhlich weiter Treibhausgase in die Atmosphäre geleitet, den Meeresspiegel ansteigen und die Erde vertrocknen lassen. Umweltschutz war zu einem Fremdwort mutiert; die Welt war das geworden, was sie vor wenigen Jahren noch als Satire abgetan hatte. Und eben dieses träge Abtun hatte die Welt müde und ihre Witze noch viel müder gemacht.
„Es wird doch nicht die Welt untergehen“, hieß es. „Den Klimawandel gab's schon immer, auch ohne Menschen.“
Ja, noch wird die Welt nicht untergehen, wusste Milton. Aber ihr Körper begann langsam und stetig zu sterben, blutete aus, wurde verwundet und vernarbt. Alles musste einmal sterben – auch Milton war gestorben. Zu Lebzeiten hatte er nie viel über ein Leben nach dem Tod nachgedacht. Er hatte geglaubt, man schlief einfach ein, wurde verbrannt oder vergraben, aber definitiv mit der Zeit vergessen.
Er hatte nicht geglaubt, dass er sich einen Körper mit seiner Lieblingspflanze teilen würde. Rhea hatte er von Präsident Wonle bekommen, und es war die einzige Pflanze gewesen die er wirklich geliebt hatte – vielleicht, weil er alles liebte, was teuer und einzigartig war. Aus demselben Grund hatte er Wissenschaftsliteratur also stets gemieden, sonst hätte er vermutlich erfahren, dass es auf der Welt hunderte bedrohte und seltene Lebewesen gab, die zu Miltons Zeit keinen mehr interessierten. Egoismus wurde ein Art Volkssport, und jeder praktizierte ihn mit großer Leidenschaft. Politisch wurde er durch die großen Wirtschafts- und Handelskriege vertreten, die inzwischen überall auf der verwundeten Welt tobten. Die Coronakrise hatte gezeigt: das Ignorieren von Problemen konnte eine tiefe, innere Zufriedenheit schaffen, und die schnarrende Stimme der Vernunft wurde ausgeblendet, wo es nur ging. Greifen Sie zu, wo Sie nur können, hatte der Populist Wonle immer betont. Nehmen Sie, was Sie kriegen können, und lassen Sie es sich nicht wegnehmen. Schlagen Sie sich den Bauch voll und feiern Sie, auch wenn es nichts zu feiern gibt. Lachen Sie über Ihre Witze und gehen Sie hinaus in die Natur. Und nehmen Sie, was Sie kriegen können. Das ist unsere Welt und wir lassen sie uns nicht kaputtmachen.
Das ist unsere Welt… hätte Milton noch einen Mund gehabt, hätte er gelacht. Wie war er so dumm gewesen, Wonle blind in den Abgrund zu folgen, als wäre er der einzige Weg zu dem einzig richtigen Ziel? Als Teil dieser widerlichen, verlogenen Ignorier-Kultur? Als hätten Presse und Protestler nie existiert? Nun, es war simpel gewesen. Aber es war nie nur unsere Welt, erkannte er jetzt. Es war nie so einfach, wie wir es gerne haben wollten. War für diese Erkenntnis erst der Tod nötig? Aber tot war er ja noch nicht ganz. Noch teilte er sich seinen Körper mit seiner Freundin Rhea, und nun beobachteten sie schon seit drei Tagen ihre Welt. Sie hatte ihn überraschend freundlich mit ihren Blättern und Blüten empfangen, hatte ihm sanft erklärt, dass es keine Rolle spiele, ob er sich alles nur einbilde oder ob es real war. Schließlich konnte niemand mehr zwischen Wahnsinn und Wahrheit, Fakten und Fake News unterscheiden. Die Natur hatte Milton einen zweiten, grünen Sarg geschenkt, und nun musste er zusehen, dass er einigermaßen bequem darin lag. Doch auch Rhea lag darin, also musste er diesen Sarg teilen. War Milton wach, kümmerte er sich um die Aufnahme von Sonnenlicht und Sauerstoff, während Rhea in einer Art Halbschlaf ruhte. War sie dagegen wie jetzt bei Bewusstsein, streckte sie verzweifelt ihre dürren, abgemagerten Blätter nach Wasser aus (was sie in nächster Zeit vermutlich nie erhalten würden), und Milton wurde träge und schläfrig. Rhea erklärte ihm dann, was draußen in Washington D.C. vor sich ging. Eine Frau trägt ihr Kind, das in der Hitze zusammengebrochen ist, informierte sie ihn gerade. Der alte Wonle versucht etwas in seinem Garten heranzuzüchten, erfolglos. Man ist so, wie du es warst, Milton. Manchmal lachte Rhea über die Welt, die sie sich mit ihrem Freund Milton teilte. Es war ein kaltes, zynisches Lachen, aus Ungläubigkeit darüber, wie die Menschen vergessen hatten, was für eine kleine Rolle sie im Universum spielten. Wie sie vergessen hatten, dass der Natur ihr Jammern und ihr Abtun egal war. Wie sie vergessen hatten, wie die Natur ihren eigenen egoistischen Volkssport verfolgte; ein Sport, der nie zu Ende ging. Darüber konnte Rhea, die Rose, nur lachen, und wenn Rhea lachte, weinte Milton, der Mann, um seine Welt. Oft aber weinte Rhea um ihre und Miltons Welt. Sie weinte um die Menschen, die unter Dürren und Hitze litten und wie in uralter Vergangenheit wieder zum Spielball der Natur geworden waren. Sie weinte um ihre Artgenossen, die roten Rosen in Miltons ehemaligem Garten, die ihre Köpfe hängen ließen. Und wenn Rhea weinte, weinte Milton mit ihr.

Autorin / Autor: Valentin, 17 Jahre