Eine Geschichte, die ihr kennt

Einsendung von Ursula Daehne, 24 Jahre

Als Mutter Eden und Vater Kapital den Bund der Ehe eingingen, konnte von Freiwilligkeit keine Rede sein. Die Alternativen für die ältere Frau schienen ausgeschöpft, da ihre Kinder auf Dauer bisher mit keinem ihrer Ex-Männer ausgekommen waren. Kapital verhielt sich charmant und liebevoll, er erzählte Mutter Eden von einer goldenen Zukunft, von Fortschritt und Zusammenarbeit, sodass sie schließlich skeptisch einwilligte.
Mutter Eden liebte alle ihre Kinder gleich. Da spielte es keine Rolle, wenn das eine schneller oder langsamer, höher oder tiefer, weiter oder nicht so weit konnte. Doch Vater Kapital begann die Kinder in Gruppen zu teilen. Nicht nur nach Können und Wert, sondern auch nach abstrusen, willkürlichen Merkmalen.
Er unterteilte sie in die Verwöhnten, die die Bedeutung des Wortes „Nein“ verlernten, die Kämpfer, die immer erst um alles bitten mussten und die Elenden, die er nicht mal eines Blickes würdigte.
Die Familie lebte in einem hohen Haus mit einem riesigen Wassergraben drumherum. Vater Kapital behauptete alles eigens errichtet zu haben. Die verwöhnten Lieblinge lebten ganz oben im Haus, wo alles einfach war. Was seine Lieblinge nicht mehr benötigten, konnten sie einfach aus dem Fenster werfen.
Die Kinder, die im Erdgeschoss wohnten, mussten mit ansehen, wie ihr Wassergraben, immer mehr zu einer Müllhalde wurde. Doch sie wussten, dass es zwecklos wäre, sich gegen die von oben zu beschweren, denn sie waren ja die Lieblinge des Vaters. Also ließen sie alles, wie es war und verließen sich darauf, dass sich irgendwann irgendwer schon etwas einfallen lassen würde.
Zufrieden über die klare Ordnung, die nun herrschte, steckte sich Vater Kapital oben seine Industriezigarren an und paffte, sodass schwarze Wolken gen Himmel stiegen.
Manchmal kam Tante Mond zu Besuch. Dann nahm sie Mutter Eden häufig beiseite und sprach mit ihr über Dinge, die die Kinder nicht hören sollten. Doch einige waren geschickt genug die Gespräche zu belauschen.
„Tante Mond sagt, ihr Mann Herr Sonne ist wütend, vor allen Dingen über den Rauch und das mit Papa und Mama, das funktioniert auf Dauer nicht.“
Aber die Kinder verstanden nicht, was das bedeuten sollte. Es funktionierte doch. Und wenn es wirklich schlecht wäre, würde sich irgendwann irgendwer schon etwas einfallen lassen.
Die Zeit verging. Zunächst merkte die Familie gar nicht, dass es schleppend immer wärmer wurde. Manche Kinder waren besorgt und wandten sich an ihren Vater, der aber meinte bloß, sie würden sich schon daran gewöhnen.
Die Kinder im obersten Stockwerk waren dabei ganz ohne Sorge. Aber weil sie ehrgeizig waren, begannen sie Truppen loszuschicken, um die umliegenden Häuser zu erobern, damit sie mehr Penthäuser und mehr Ressourcen für sich gewinnen konnten. Vater Kapital war mächtig stolz auf sie, denn dadurch konnte er noch mehr Zigarren paffen. Bloß Mutter Eden schaute betrübt.
Tante Mond und Herr Sonne beobachteten das Spiel aufmerksam aus der Ferne. Herr Sonne wurde immer wütender über die Ungerechtigkeit unter den Kindern und die ganzen Zigarren von Vater Kapital, die doch für die Kinder und Mutter Eden nicht gut sein konnten.
Die Kinder der unteren Stockwerke bemerkten die Hitze mittlerweile stärker. Sie bekamen Fieber und begannen zu jammern.
„Ist es heiß hier drin oder ist das jetzt immer so?“, fragten sie. Aber Vater Kapital meinte wieder bloß, sie würden sich schon daran gewöhnen.
Auch der Müllberg stieg weiter und die ersten paar Stockwerke konnte man kaum mehr verlassen.
„Merkt ihr da oben das alles denn nicht?“, fragten die Kinder der unteren Stockwerke die von oben.
„Nein,“ sagten sie „wir haben hier Klimaanlagen und freie Sicht. Alles ist gut und Papa Kapital gibt uns schöne Sachen.“
Was die oben nicht wussten war, dass ihr Vater die schönen Sachen nicht aus dem Nichts zauberte. Er hielt sich in den Kellern der Häuser viele Kinder, die allein und von Gestank des Mülls umgeben den ganzen Tag arbeiteten, damit es denen oben so gut ging und Vater Kapital seine Zigarren rauchen konnte. Es war ein sinnloses Ackern und Schuften, dass sich Mutter Eden und Mond und Sonne schämten.
Dann ging auch dem Wasserspiegel die Geduld aus. Bisher hatte er sich zurück gehalten. Aber nun hatte er wirklich keine Lust mehr auf die Hitze und den Müll und die Zigarren und das Schmelzen der Polarkappen und wollte dringend ein Wörtchen mit Vater Kapital sprechen, der noch immer im Penthaus umgeben von seinen Lieblingen schwarze Wolken paffte.
„Hilfe, hilfe, ich kann nicht schwimmen!“, riefen die Kinder, die im Keller lebten, als der Wasserspiegel sich an den Aufstieg machte. Der Wasserspiegel sprudelte und brüllte, dass das ganze Haus zitterte. Doch die Kinder im obersten Stock bekamen kaum etwas mit. Sie taten es als leichte Brise ab und widmeten sich weiter der Herrschaft und dem guten Leben.
Der Wasserspiegel stieg, ihre Häuser versanken im Wasser und das Fieber der Kinder erhöhte sich, bis es unerträglich war. Die Kinder schrien nach ihrer Mutter, doch diese ließ überfordert bloß weitere Naturkatastrophen los. Sie schrien nach ihrem Vater, doch der war mit seinen Lieblingen angesichts der Gefahr fortgegangen.
Seine neue Frau war eine entfernte Verwandte von Gliese, eine Frau, die Mutter Eden Erde sehr ähnlich, und ungefähr gleich warm wie diese war. Aber sie wohnte zu weit weg von dem Ort, an dem der Rest der Familie lebte, zu weit weg, um sie jemals ohne fremde Hilfe erreichen zu können.
Die Mutter und ihre übrigen Kinder waren auf dem Dach des Hauses angekommen. Hier konnte man sehen, dass auch die benachbarten Häuser fast vom Wasserspiegel verschluckt worden waren. Dieser machte es sich hier oben nun ordentlich bequem und sonnte sich, frei von Ungerechtigkeit und schwarzem Zigarrenrauch.
Verzweifelt klammerten sich die letzten Kinder an die Mutter. „Es tut uns so leid, es tut uns so leid!“, riefen sie.
Aber die Mutter schwieg und sank bloß müde auf die Knie.
Was soll ein Planet schon tun?

Autorin / Autor: Ursula Daehne, 24 Jahre