Das Geschichtsbuch der Zukunft

Einsendung von Charlie Meyr, 19 Jahre

Gelangweilt blicke ich aus dem Fenster. Der Unterricht hätte schon vor knapp fünf Minuten anfangen sollen. Mit einem Seufzen fokussierte ich mich auf mein Geschichtsbuch auf dem Tisch vor mir. Ohne richtiges Interesse schlug ich es auf. Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen und ich hatte mich noch mit keinem der Bücher wirklich auseinandergesetzt. Nicht, dass ich freiwillig die Schulbücher durcharbeiten würde, aber die Bilder ansehen, war doch irgendwie zwischendurch mal drin. Das erste Thema waren die Massenaussterben. Sechs an der Zahl. Das neuste war noch gar nicht so lange her und hatte sich länger gezogen als die zuvor, aber vor allem war es menschengemacht. Langsam blätterte ich durch die Seiten und betrachtete die Bilder. Die Bilder von den Tierarten, die bei den ersten fünf Artensterben für immer von der Erde verschwunden waren, waren am Computer erstellt worden, dann wurden aus den Computeranimationen echte Bilder. Tiere, die ich ebenfalls noch nie gesehen hatte, außer im Fernsehen in Dokumentationen vom Anfang des 21. Jahrhunderts. Diese Tierarten waren alle ausgestorben. Fischotter, Luchs, Feldhase, diese Tiere hatten in Deutschland gelebt und der Mensch war schuld, dass sie das nicht mehr taten. Und warum? Weil der Mensch den Platz für sich beanspruchte. Ich blätterte weiter und betrachtete die Bilder von Tieren, deren Name ich entweder noch nie gehört hatte, die ich im Fernsehen oder im Zoo, als die letzten ihrer Art gesehen hatte. War den Menschen damals eigentlich klar, was sie taten? Was es für zukünftige Generationen bedeutete? Ein paar Tierarten hier und da, die nicht mehr da waren, waren schon tragisch genug für die Biodiversität gewesen, aber es fehlten ja auch verschiedenste Arten, deren wahren Wert die Menschheit erst verstand, als sie weg waren. Insekten zum Beispiel. Heute mussten Menschen von Hand bestäuben, weil die Insekten fehlten, dadurch konnten sich manchen Menschen das Essen nicht mehr Leisten und es kam zu Hungersnöten. Ich versuchte die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu bekommen und konzentrierte mich wieder auf das Geschichtsbuch vor mir. Als nächstes Thema kam das Thema Klimawandel auf mich zu. Das Thema hatte eigentlich nichts in einem Geschichtsbuch zu suchen. Das Thema war noch immer aktuell, da die Menschen irgendwie nicht aus ihren Fehlern lernten, auch nicht, wenn sie sie ins Gesicht schlugen. Meine Augen glitten über Statistiken verschiedenster Art, während ich Seite um Seite durch das Thema blätterte. Die Temperaturschwankungen, die Hitzerokorde, die Statistik zu Umweltkatastrophen. Alle zeigten einen deutlichen Anstieg. Mein Blick blieb an der Statistik für den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid und anderer Treibhausgase hängen. Diese Statistik war zwar abfallend, aber nicht abfallend genug, um den Klimawandel zu stoppen, nicht damals, nicht heute, noch immer war der Ausstoß nicht bei null, weil die Politiker sich nicht an ihre Versprechen hielten oder irgendwelche Leute an der Macht waren, die das Problem noch immer nicht wahrhaben wollten.
Mit einem Kopfschütteln riss ich mich von den Statistiken los und blätterte weiter. Nachdem ich langsam das Gefühl bekam, dass das mit den Statistiken gar nicht mehr aufhören würde, schlug ich endlich ein neues Thema auf: das Meer. Zugegebenermaßen sollte man meinen, dass dieser Themenblock eher ins Fach Biologie oder Geografie gehörte. Es gab einen Grund, warum das Thema seinen Weg ins Geschichtsbuch gefunden hatte. Es ging nicht um das Meer als Ökosystem oder seine Funktion im Erdklima, sondern um das, was wir Menschen dem Meer angetan hatten. Als Überleitung vom Klimawandel wurde als erstes die Erwärmung der Ozeane ins Auge gefasst, wodurch mich direkt Bilder von Algenblüten und toten Fischen erwarteten. Weniger Sauerstoff gleich weniger Leben im Meer. Haben die Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts ja super hinbekommen. Zwei Doppelseiten lang tote Fische in verschiedenen Verwesungsstadien und mir kam fast mein Frühstück wieder hoch. Die Bilder von zerstörten Korallenriffen, die mich als nächstes erwarteten, waren auch nur anders und nicht wirklich besser. Die Versäuerung der Ozeane war auch etwas, an dem der CO2 Gehalt der Atmosphäre schuld war. Dann sind die Ozeane irgendwann vollständig gekippt, sodass viele Meeresarten, sich im ersten Kapitel meines Geschichtsbuches wiederfanden. Mein Blick glitt über die Vorher-Nachher-Bilder der Korallenriffe und ich begann mich zu fragen, warum man sich nicht mehr bemüht hatte diesen Lebensraum zu schützen.
Ich hatte mich einigermaßen mit den Bildern angefreundet, als ich erneut umblättert und mich auf einmal mit Sturmfluten konfrontiert sah. Zum ersten Mal, seit ich angefangen hatte das Geschichtsbuch durch zu sehen, glitt mein Blick zum Fenster. Man konnte es nicht sehen, aber das Meer war nicht weit entfernt. Das war nicht immer so gewesen, es gab genug Bilder, die einen ganz anderen Küstenverlauf dokumentierten.
Genau das war wohl auch das nächste Thema, denn als ich zurück ins Buch sah, stellte ich fest, dass die Sturmfluten gar keine waren, sondern einfach Orte zu sehen waren, die das Meer, im Zuge des Meeresspiegelanstiegs, verschluckt hatte. Ich betrachtete die alten Karten, die verschiede frühere Küstenlinien zeigten. Wie sicher die Menschen sich wohl gefühlt hatten, als sie sich dort angesiedelt hatten? Ich blätterte weiter und wurde von noch schlimmeren Bildern erwartet. Es war ja nicht so, dass das Meer nur an den Kontinenten stieg, nein, Inseln ging häufig komplett unter. Menschen verloren ihre Lebensgrundlage, ihren Lebensraum, wenn man so will. Zusammen mit den Bewohnern aus den Gebieten, die auf Grund des Klimawandels nicht mehr bewohnbar waren, summierte sich eine große Zahl an Klimaflüchtlingen zusammen, die eigentlich unmöglich zu stemmen war. Mehr Menschen führten zu noch mehr Hunger und Leid. Diese Anzahl an Flüchtlingen musste jetzt aber von der Generation meiner Eltern gestemmt werden und zukünftig auch von meiner Generation, obwohl wir gar nichts damit zu tun hatten. Nur weil unsere Vorfahren meinten, sie könnten die Verantwortung auf die nachfolgenden Generationen abwälzen. Wenn sie aber schon Verantwortung übernommen hätten und entsprechend gehandelt hätten, dann gäbe es diese Probleme nicht, oder zumindest nicht in diesem Ausmaß. Das gilt nicht nur für die Sache mit den Flüchtlingen, sondern auch für alles andere, was mit dem Klimawandel und C02 und Umwelt zusammenhängt. Plötzlich öffnete sich die Klassentür. Schnell schlug ich das Buch zu, nicht dass noch vermutet wurde, dass ich verstärktes Interesse am Unterricht hätte. Denn lohnte es sich überhaupt für eine Zukunft zu lernen, die man eventuell nicht mal hatte? Unabhängig von dieser Überlegung, startete der Lehrer jetzt mit zehn minütiger Verspätung den Unterricht. 

Autorin / Autor: Charlie Meyr, 19 Jahre