WAS SIE NICHT WISSEN

Einsendung von Miriam Riedlinger, 22 Jahre

Auf den weiten Flächen der Arktis trottet resigniert der kleine Knut. In seinen klaren Augen spiegelt sich das Blau des Himmels, als er den Kopf hebt um in der Luft zu schnuppern. Zu lange hat er kein Fressen gehabt. Ein leichter Duft nach Robbe weckt neue Hoffnung in ihm und mit neuer Kraft macht er sich auf den Weg. Jahr um Jahr ist es für ihn schwieriger geworden, Nahrung zu finden. Es ist wärmer als sonst und das Eis schmilzt. Die Jagdgründe werden kleiner und Knut behagt das nicht, aber nun ist die Sorge um eine ungewisse Zukunft verschwunden, denn die Erwartung eines vollen Magens und einer neuen Fettschicht stimmen Knut optimistisch.
Unberechtigterweise.
Knut kann das nicht wissen, doch das Eis schmilzt aufgrund einer erhöhten Temperatur. Die Eisflächen der Erde sind eine wichtige Voraussetzung für ein stabiles Klima. Natürlich weiß Knut nichts von Klima. Woher soll er denn auch wissen, dass die Arktis durch ihre weiße Oberfläche einen Großteil der einfallenden Sonnenstrahlung wieder reflektiert und in das Weltall zurücksendet? Natürlich ist das ein wichtiger Faktor, der der Erwärmung der Erde entgegensteht. Knut kann nicht wissen, dass das Schrumpfen seiner Jagdgründe noch viel weitreichendere Folgen hat.
Die Flächen, die bisher mit Eis bedeckt für eine hohe Reflexion der Sonnenstrahlung gesorgt hatten, werden nun durch Wasserflächen ersetzt, die nur einen viel geringeren Teil der Strahlung zurücksenden. Dadurch kommt es genau in diesen Gebieten zu einer stärkeren, aber auch globalen Erwärmung.
Der arme Knut weiß nicht, dass diese sogenannte „Eis-Albedo-Rückkopplung“ sein Todesurteil sein wird. Er wird erfolgreich jagen, satt sein und das gleiche wird sich wiederholen … aber zu selten. Und so werden am Ende seine Fettreserven nicht ausreichen um den Sommer zu überstehen. Natürlich weiß er nicht, dass er Opfer der Entscheidungen einer anderen Spezies, deren Weg er nie gekreuzt hatte, geworden ist. Genauso wenig ahnt er, dass diese Spezies bald seine gesamte Art auf dem Gewissen haben wird.

Hunderte Kilometer weiter südlich streift Bonny mit ihrer Herde durch den sibirischen Permafrost. Eine leichte Schneedecke bedeckt den ganzjährig gefrorenen Boden und reicht ihr bis zu den Knöcheln. Ihre weiße Mähne flattert in der kühlen Brise. Die Herde hinterlässt tiefe Spuren im Schnee. Bonnie weiß nicht, dass unter ihren breiten Hufen Tonnen an organischem Kohlenstoff liegen, der mit dem Boden eingefroren ist. Sie weiß nicht, was passiert, wenn es wärmer wird und der Boden unter ihren Füßen aufschmilzt. Die Mikroorganismen im Boden werden sich über die Wärme freuen und sofort beginnen, das eingefrorene organische Material mit ihrem Stoffwechsel umzusetzen… und zwar in das Treibhausgas Methan.
Nun stelle sich das einmal jemand vor: Tonnen an eingefrorenem Kohlenstoff werden zu Tonnen an Methan werden, das 28-mal klimawirksamer als Kohlendioxid ist! Bonnie stellt sich das nicht vor. Es hat keine Bedeutung für sie, genauso wenig wie die Vorstellung, dass im Jahr 2100 schon die Hälfte des weltweiten Permafrostes aufgetaut sein könnte. Bonnie denkt ans Fressen. An saftiges, grünes Gras. Die Herde bleibt stehen. Hier scheint ein guter Platz zum Weiden zu sein. Bonnie scharrt mit den Hufen im lockeren Schnee, bis die grüne Pflanzenschicht zum Vorschein kommt. Genüsslich beginnt sie mit dem Grasen. Die isolierende Schneedecke bewahrt den gefrorenen Boden vor der Kälte an der Oberfläche. Aber durch Bonnies Scharren wird die Schneedecke durchbrochen und die kalte Luft kann den Boden weiter auskühlen und durchfrieren lassen.
Bonnie weiß nichts von ihrer heldenhaften Rolle als „Bewahrerin des Permafrostes“. Sie hat sich satt gefressen und zieht mit ihrer Herde weiter. Woher soll sie auch wissen, dass mit ihrer Hilfe im Jahr 2100 möglicherweise nur 20% anstatt 50% des Permafrostes aufgetaut sein könnte?

Wieder einige hundert Kilometer weiter südlich in einem Norddeutschen Moor sitzt Ferdinand am Uferrand. Er ist auf Partnersuche und gibt das herzzerreißendste Quaken von sich, zu dem er imstande ist, aber kein Weibchen erscheint. Wenige sind übrig geblieben von den Seinen und umso härter ist die Partnersuche geworden. Es wird trockener und das behagt Ferdinand nicht. Komische Tiere auf zwei Beinen kommen täglich und tun seltsame Dinge. Schlechte Dinge. Ferdinand weiß nicht, dass im Moor organische Substanz unter Wasserabschuss nicht umgesetzt werden kann. Daher speichern Moore ein Drittel des Kohlenstoffes der Landflächen, obwohl sie nur 3% der Landoberfläche ausmachen.
Aber die Zweibeiner drainieren das Moor, um den Torf abzubauen und als Brennstoff oder für Blumenerde zu nutzen. Durch das Trockenlegen des Moores wird der gespeicherte Kohlenstoff als Kohlendioxid in die Atmosphäre freigegeben. Auch Lachgas wird bei der Drainage freigesetzt, das 300-mal so klimaschädlich wie Kohlendioxid ist. Aber Ferdinand weiß nichts von Gasen, die die Temperatur auf der Erde erhöhen. Und dass die Zweibeiner mit ihrem überlegenen Verstand dabei sind, sich in ihr eigenes Verderben zu stürzen, fällt Ferdinand nicht im Traum ein. Denn sie werden durch ihr Konsumverhalten für einen Klimawandel sorgen, der sich durch diverse Rückkopplungsfaktoren verstärken und nicht mehr aufzuhalten sein wird. Tausende bis Millionen Zweibeiner werden an den Auswirkungen sterben; sei es durch Umweltkatastrophen wie Tsunamis und Bergstürze oder durch eingeschleppte oder neuartige Krankheiten. Durch den steigenden Meeresspiegel und die fortschreitende Wüstenbildung wird es nicht mehr genug Ackerflächen geben: Nahrungs- und Wasserknappheit für die wachsende Bevölkerung werden vorherrschen.
Aber Ferdinand weiß nichts von der katastrophalen, selbstverschuldeten Zukunft der Zweibeiner. Und wenn er etwas davon wüsste, würde es ihn nicht interessieren. Kein Weibchen ist zu seinem Paarungsruf erschienen und so stößt er sich mit einem letzten verzweifelten Quaken vom Ufer ab und taucht enttäuscht seinen Weg.

Autorin / Autor: Miriam Riedlinger, 22 Jahre