Schöne neue Welt?

Einsendung von Benjamin Maas, 15 Jahre

Er wachte auf, ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend. Er spürte das vertraute Flimmern, das sich in seinen Lungenflügeln ausbreitete und langsam zu einem Brennen anwuchs. Vermutlich ging sein ihm zugeteilter Sauerstoff langsam zur Neige. Er betrachtete seine Taschenuhr, ein Erbstück seines Großvaters und eines der wenigen Dinge, die er hatte mitnehmen können, als er wie alle anderen auch gezwungen wurde in eine der “staatlichen Unterkünfte” umzuziehen. Die Taschenuhr war voller Kratzer und das Blattgold war an manchen Stellen schon abgelöst, dennoch konnte er die Uhrzeit tadellos erkennen. Also noch 28 Stunden bis zu seiner nächsten Rationsübergabe. Das würde er schaffen, er hatte es damals schließlich auch geschafft, die ungefilterte Luft nach der Stunde Null einzuatmen. Zugegeben, er erinnerte sich kaum an die Zeit damals und mit jedem Tag verblassten die Erinnerungen immer mehr. Er konnte es sich kaum mehr vorstellen, wie ein richtiger Wald aussah und an den blauen Himmel erinnerte er sich schon gar nicht mehr. Er dachte in letzter Zeit oft an seinen Großvater, der in einer Zeit komplett ohne das Internet aufwuchs. Wenn er an seine eigene Kindheit dachte, wurde ihm bewusst, dass er zur letzten Generation gehörte, die immerhin die ersten 10 Jahre ihres Lebens ohne Handys, Laptops und Holos verbracht hatte und noch draußen spielte. In den Jahren danach war es kaum vorstellbar, sein Kind nach draußen gehen zu lassen, geschweige denn es dort spielen zu lassen. Die Umweltverschmutzung nahm überhand, vom Smog ganz zu schweigen und wenn man es vermeiden konnte, dann ging man nicht nach draußen. Nach der Pandemie war einfach alles außer Kontrolle geraten, obwohl sie zunächst wie ein Lichtblick wirkte und die Natur sich tatsächlich erholte. Doch wie zum Trotz nahm die Umweltverschmutzung nie gekannte Ausmaße an und der Klimawandel ging so rasant schnell weiter, dass sogar den Klimawandelleugnern die Ausreden ausgingen. Nachdem nach Fukushima auch in Brasilien und den USA Atomreaktoren explodierten, stiegen viele Regierungen von atomarer Energie vollends auf Braunkohle um. Jegliche Versprechungen eines Kohleausstieges oder gar CO2-neutral zu werden waren haltlos. Sicher, es gab eine große Bewegung, die alles dafür gab, unseren Planeten zu retten, doch es war ein aussichtsloser Kampf gegen die riesigen Konzerne und Regierungen. Nach jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, einem sintflutartigen Anstieg von Umweltkatastrophen und damit einhergehenden Flüchtlingsströmen schlossen sich alle Regierungen der größten Nationen (bis auf Russland) zusammen und schrieben eine neue Verfassung, die beinahe weltweit galt. Man wurde gezwungen, in eine der staatlichen Unterkünfte umzuziehen und es wurden nach und nach riesige Glaskuppeln gebaut, in denen die Menschen nun leben mussten, da die Luft außerhalb kaum mehr zu atmen war und große Landstriche radioaktiv verseucht waren. Irgendwann wurden die Kuppeln hermetisch abgeriegelt und man durfte sie nicht verlassen. Jeder hatte seinen Arbeitsplatz zugeteilt bekommen und Unterhaltung gab es keine, außer einem Holo-Screen, den jeder in seinem Appartement stehen hatte, auf dem aber nur ein einziger staatlicher Sender lief. Und diese Geräte dienten mehr zur Überwachung der Bürger als zur tatsächlichen Unterhaltung.
Er erinnerte sich an ein Buch, das er als Jugendlicher gelesen hatte: Es hieß 1974 oder so ähnlich. Sein Großvater hätte sicherlich gewusst, wie das Buch heißt, denn wenn es um klassische Literatur ging, konnte ihm keiner das Wasser reichen.
Er war es auch, der ihm die Liebe zur Geschichte und Literatur näherbrachte und um seiner zu gedenken studierte er Germanistik. Er beendete sein Studium zwei Jahre bevor Germanistik zusammen mit vielen anderen Studienfächern abgeschafft wurden. Er hasste es, sich an die ersten Jahre des Eingesperrtseins zu erinnern. Der Tagesablauf war monoton, man hatte keinerlei Möglichkeit sich abzulenken. Man fühlte sich wie ein Vogel in einem goldenen Käfig. Nur die aller reichsten Bürger konnten sich mit Bestechungen die sonst nur den Regierungsmitgliedern vorgehaltenen Vergünstigungen, wie Fitnessräume oder das Schwimmbad des Distriktes leisten. Auch durfte man seinen Distrikt nicht verlassen, um Familie oder Freunde zu besuchen. Eigentlich durfte man ihn überhaupt nicht verlassen, sofern man nicht über die nötige Sicherheitsstufe verfügte. Das Verlassen der Kuppel galt als sicheres Todesurteil. Personen, die es versucht haben, hat man nie wiedergesehen. Die Leute trauerten nicht um die Verschwundenen, man hatte schließlich keinerlei persönliche Bindung zu ihnen, denn so etwas wie Empathie war nicht gerne gesehen.
In den letzten Monaten hatte er immer wieder Gerüchte gehört, dass die Außenwelt nicht so tödlich sei, wie es die Regierenden einen glauben lassen wollten.  Es sollte sogar noch eine der alten Städte geben, wo Menschen frei lebten.
Er spürte wieder, wie das Ziehen in seinen Lungen stärker wurde. Er erinnerte sich an frühere Angelausflüge mit seinem Großvater, als tatsächlich noch Fische in Seen schwammen, und genau so mussten sie sich fühlen, wenn sie an Land gezogen wurden.
Langsam ging er zur Tür und verließ seine Unterkunft. Er reihte sich in die Reihe der Arbeitenden ein und ging zu seinem Einsatzort, der Abfallentsorgung. Hier kamen alle Kanäle des Abwassers zusammen. Er blickte noch ein letztes Mal über seine Schulter und setzte seinen Weg zur Kanalisation fort. Er folgte der Strömung des Abwassers, schließlich musste es irgendwo jenseits der Kuppel herauskommen. Nach mehreren Stunden sah er einige von Rost überzogene Sprossen in der Wand. Er stieg hinauf und drückte mit aller Kraft den Kanaldeckel nach oben. Er drückte sich hinauf, blickte von der Sonne geblendet nach vorne und atmete tief ein.

Autorin / Autor: Benjamin Maas, 15 Jahre