Das letzte Volk des Waldes

Einsendung von Benjamin Winter, 22 Jahre

Die Sonne ging auf und die Natur erwachte. Schwärme von Schwalben und Papageien stießen aus den Baumkronen empor und eroberten den Himmel. Der Lärm der Vögel und Insekten weckte auch die Schimpansen, die von ihren Schlafplätzen herunterkletterten und auf Nahrungssuche gingen.
Dort wo der Bach eine Kurve machte, lag das Dorf der Einheimischen, das zwischen den Baumriesen kaum auffiel.
Mit den ersten Sonnenstrahlen sprangen die Jäger aus den Betten, um sich in die ferne Wüste zu begeben und Gazellen zu jagen. Danach folgten die Frauen und Kinder, die auf die Suche nach den Früchten des Waldes gingen und das Geerntete in überquellenden Körben zurückbrachten. Die kleine Gemeinschaft pflegte ihren Wald und dieser gab ihnen als Gegenleistung Schutz und eine Heimat. Fiel ein Baum um, blieb er liegen und wurde der Natur überlassen, die ihn über die Jahre zersetzte und an dessen Stelle ein neuer Baum wuchs.
Aufgrund der Abgeschiedenheit des Waldes, hatte sich noch nie ein Fremder zu diesem Ort verloren. Während draußen die Welt in die Zukunft schritt, große Städte errichtet wurden, die Elektrizität die Dampfenergie und das Auto die Kutsche ablöste, sich Häuser höher als jede Baumkrone schraubten, die Menschen sich dem Diktat der Zeit unterwarfen, riesige Bildschirme an jeder Fassade und in jedem Wohnzimmer flackerten, viel Geld für nur Wenige vorhanden war, die Massen fettleibiger wurden und ihre Umwelt zerstörten, grauer Dunst in den Straßen lag und sich Völker bekriegten, sprangen und wanderten die Eingeborenen unberührt und ohne Wissen um die Schrecklichkeit der Außenwelt durch ihren Regenwald.
Sie kannten weder die Gier, noch den Hass, kannten weder zu viel, noch zu wenig und lebten das Leben, von dem sich die Menschen der Ferne abgewandt hatten. Isoliert durch die Wüste, konnte dieses Paradies gedeihen und Generationen um Generationen in Frieden leben.
Eines Tages jedoch, trafen die Jäger am Rande ihres Waldes auf einen Fremden, der sich in der Wüste verirrt hatte und dem Tode nahe war. Mit der Barmherzigkeit beseelt, trugen sie den Fremden in ihr Dorf.
Nachdem alle Mittel der Heilkunst aufgewandt worden waren und sich der Gast erholt hatte, konnte jener schon nach wenigen Tagen auf eigenen Beinen stehen.
Daraufhin untersuchte er das unbekannte Land und tauschte ein Stück des kostbaren Holz der Baumriesen gegen seine Uhr. Fasziniert drängten sich die Einheimischen um das Erzeugnis billiger Fabrikarbeit und hielten die Bewegungen der Nadel für ein übernatürliches Phänomen, woraufhin sie eiligst einen Schrein zimmerten, um dem Heiligtum einen Ort der Verehrung zu geben. Von seiner Entdeckung übermannt drängte der Fremde zur Abreise, um seiner Heimat von dem Gesehenen zu berichten.
Das Geheimnis des Waldes sprach sich in der Fremde herum und die Heerscharen des Profits fielen in den Regenwald ein, um den Reichtum der Einheimischen zu erobern. Anfangs tauschten die Fremden noch wertlose Objekte gegen ein paar Scheiben des kostbaren Holzes. Die Einheimischen waren jedoch keinesfalls ohne Verstand und wussten bald um den Wert von physischen Geld, wodurch sich der Tauschhandel zu einem normalen Kauf entwickelte.
Sie hörten von den Städten der fremden Welt und reisten zu diesen. Die Größe, das nächtliche Gefunkel der Werbeanzeigen und die schnellen Transportmittel zogen sie in ihren Bann und sie
fassten den Entschluss auch auf diese Art leben zu wollen.
Sie ließen ihren Wald roden und verdienten dabei viel Geld. Um noch mehr zu verdienen, warben sie sogar in der Ferne für das Holz ihres Waldes.
Armeen von Holzfällern schwangen ihre stählernen Äxte in die hunderte Jahre alten Stämme und wurden irgendwann von Maschinen abgelöst, die das Holz noch rascher zersägen konnten. Donner hallte durch das Geäst und die Vögel, Affen und anderen Tiere verließen ihre Heimat.
Es wurde allmählich still im Wald.
Stück für Stück drängte sich seine Grenze näher an das Dorf heran, das die Einheimischen mit ihrem Gewinn umgebaut hatten. Statt der alten Holzkonstruktionen stemmten sich nun Betonwände in den Boden und Fenster aus Glas ermöglichten den Blick auf die Arbeit der Holzfäller.
Ihre Abwässer wurden in den Bach geleitet, der dadurch verschlammte und zunehmend zu giftig für das Baden wurde.
In dem Maße, wie sich der Wald verkleinerte, fraß sich die von den Ostwinden angetriebene Wüste in das Tal hinein.
Am Ende stand nur noch ein einziger Baum, der Älteste des ehemaligen Waldes.
Plötzlich wurde das Dorf von einer Hitzewelle überrascht. Der Sand drückte gegen die Fensterscheiben und der Bach vertrocknete, da sein Wasser verdunstet war und der Regen ausblieb.
Verärgert über ihre Torheit, bewaffneten sich die Einheimischen, um ihren letzten Baum vor dem Fällen zu schützen.
Wissenschaftler aus aller Welt kamen in das Dorf und rieten ihnen, im Schatten des Baumriesen, neue Setzlinge zu pflanzen, die den Wald wieder aufforsten sollten. Man begann sofort mit der Umsetzung des Planes und die Setzlinge wuchsen auf dem letzten fruchtbaren Boden hervorragend.
Unbedacht ließen sich die Einheimischen von dem Augenscheinlichen betrügen. Als sie in ihrer ungesättigten Gier sahen, dass sich die Setzlinge derart gut entwickelten, gaben sie die Freigabe den alten Baum zu fällen. Maschinensägen arbeiteten sich durch sein Fleisch, bis der Riese zu Boden fiel und in zahlreiche Stücke geteilt wurde, wodurch ein jeder seinen Anteil vom Gewinn bekam.
Glücklich durch den hereinkommenden Reichtum, vernachlässigten die Einheimischen die Setzlinge, die gegen die Wut der Wüste noch zu schwach waren und rasch eingingen.
Ungeschützt lag das Dorf nun in dem Meer aus Sand. Seine Einwohner wendeten all ihr eingenommenes Geld auf, einen neuen Wald als Schutz zu pflanzen, was allerdings jämmerlich misslang.
Ohne Geld und ohne Heimat mussten sie schließlich ihr Dorf verlassen, dessen
Dächer, begraben unter dem Sand, noch heute als Zeichen der Gier, einige Zentimeter über den Boden ragen.

Autorin / Autor: Benjamin Winter, 22 Jahre