Von den Schuhen dieser Welt

von Annika Wucher

Charakter ist ein merkwürdiges Wort,
Es trägt meine Gedanken fort,
In eine ferne Diskussion,
Erweckt dort eine Illusion,
Der Vielfalt der Menschen vor meinem Auge,
Was ist Charakter? Was ich wohl glaube?
Und dachte ich, ich teile es heute,
Treff fremde charakteristische Leute,
Und werd sie mit meinem Geschwätz hier quälen,
Nein, ich werd aus meinen Gedanken erzählen,
Von einer inneren Diskussion,
Einer inneren Illusion,
Wer ich bin und wer ich gern wäre,
Ob sich diese Frage wohl jemals kläre?
Schildre ich was ich als erstes sehe,
Wenn ich das Wort „Charakter“ verstehe.
Regen verzerrt den Blick in die Welt,
Ein Tropfen nach dem anderen fällt.
Ich lege mich ins nasse Gras,
Schaue durch mein großes Fernglas,
Die Füße dieser Menschen an,
Ob ich sie unterscheiden kann.
Füße tragen uns durch den Tag,
Springen und Hüpfen mit dir, wer mag,
Sprinten und gehen,
Stolpern und stehen,
Bringen dich lebenslang zum Ziel,
Tänzeln und trampeln

Steppen und strampeln
Tragen von Füssen dich bis nach Kiel.
Bekleiden wir sie mit bunten Schuhen,
Während sie an unsren Beinen ruhen,
High heels und Pumps, Sandalen und Schlappen,
Strampeln bis unsere Füße ermatten.
Jetzt fragen Sie sich, was redet sie da?
Redet von Schuhen von fern und nah,
Schweift anfangs schon völlig vom Thema ab,
Das geht sofort den Bach hinab.
Doch wirklich, wenn ich an Charakter denke,
Und einfach nicht meine Gedanken lenke,
Sie grübeln lasse in alle Tiefen,
Erinnre ich mich, wie Menschen liefen,
Wohin sie liefen und wie sie liefen,
Doch vor allem, worin sie liefen.
Zarte Knöchel, kurze Beine,
Schnüre haben die Schuhe keine,
Elfenhaftes rosarot,
Ballerinas, so groß wie ein Boot,
Vorne spitzer mit dünner Sohle,
Ein kleiner Absatz der Größe zum Wohle.
Genau dort steht diese zierliche Person,
Ihre Sprache, ein zarter Ton,
So stell ich mir ihre Stimme vor,
Für sie wartet ein großes Tor,
Genau wie die Schuhe zu groß für sie sind,
Ist die Person darin noch ein Kind,

Das Leben für sie noch viel zu grob,
Braucht noch Halt und mütterliches Lob,
So groß wie der Abstand vom Schuh bis zum Zeh,
Ist der von der Welt bis zu dieser Fee.
Den Absatz braucht sie als Stütze noch,
Hoch hinaus muss sie selbst dann doch.
Kräftige Beine mit goßen Füßen,
Lassen in Schwarzen Turnschuhen grüßen,
Abgeschunden, die Sohle ganz braun,
Enganliegend, für Freiheit kein Raum.
Die Schnürsenkel grob und fest gebunden,
Zum Öffnen bräuchte man viele Stunden,
So denk ich, ist dieser Mensch auch an sich,
In einem engen Raum ohne Licht,
Ohne Fenster, ohne Türe,
Eng verschlossen durch die Schnüre,
Ein Einzelgänger, äußerlich,
Und ganz tief drinnen wünscht er sich,
Jemand würd die Schnüre lösen,
In die er seine selbst gelegt,
Jemand brächt die Fassade zum Bröseln,
Wohinter er selbst in Einsamkeit lebt.
Am linken Fuß den Lederschuh,
Doch lässt die Jugend keine Ruh,
Am andern Fuß ein blauer Chuck,
Passt nicht gut zum Karriere Frack,
Doch kann der Träger des Schuhs nicht ertragen,
Dass seine Füß seinem Job erlagen,

Nun passend zum Anzug in Leder geschnürt,
Täglich der Schuh seiner Arbeit gebührt.
Der linke Fuß scheint erwachsen zu sein,
Die Jugend trägt er am anderen Bein,
Erwachsen sein kam so bald schon,
Doch er steckt noch im Ökoton,
Kann die Jugend nicht gehen lassen,
Kann noch nicht die Karriere fassen,
Verweilt noch Jahre im Übergang,
Steht noch lange an einem Hang,
Der aufwärts geht und selbständig wird,
Der abwärts sich wieder zur Jugend verirrt.
So will er nur halb ein Geschäftsmann sein,
Doch noch hat er einen kindlichen Schein,
Durch die nasse Wiese wanken,
Zwei Füße die in grünen High heels schwanken,
Gut getarnt, so grün wie das Gras,
An der Seit eine Schnalle aus Glas,
Gelbe Punkte überall,
Pinke Schnür wie im Karneval,
Schreien die Schuhe nach Aufmerksamkeit,
Ziehen die Blicke an von weit und breit,
Eine Persönlichkeit wird betont,
Mit Aufsehen und Grinsen der andern belohnt,
Ist dieser Mensch ein freier Geist,
Durch Schuhe seine Vielfalt beweist.

Charakter dreht sich um inneres Leid,
Trauer, Glück oder Einsamkeit,
Von Freude und Wut,
Bis zur inneren Glut,
Spiegelt Charakter die Arten wieder,
Die Menschen mit all den Gefühlen der Welt,
Zeichnet sogar auf den Schuhen nieder,
Was ihr Herz innerlich verstellt.
Sich jeden Tag in Schuhe pressen,
Ohne die eigenen Füße zu messen,
Die Spur einer Hülle hinterlassen,
Die eigene Identität zu verpassen,
Charakter des einzigen Daseins zu schnüren,
Stattdessen eine Fassade zu küren,
Das ist nicht Sinn unserer Geschichte,
Denn eigentlich schreiben wir Gedichte,
Lasst uns einmal die Schuhe ausziehen,
Und einmal nicht unserem Charakter entfliehen,
Gehen wir einen Tag barfuß spazieren,
Um unseren Charakter nicht zu verlieren,
Hinterlassen wir unsere eigenen Spuren,
Auf unseren ganz persönlichen Touren.