Mit dem Herzen sehen

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Lena Grundmann, 18 Jahre

Schmecken, riechen, hören, fühlen — Das ist meine Welt. Ich rieche, wie abgestanden die Luft hier unten ist, fühle, dass der Blindenstock sicher in meiner Hand liegt und schmecke das Kaugummi, dass ich in meinem Mund hin und her schiebe. Ich höre, wie die U-Bahn langsamer wird, bis sie schließlich stehen bleibt. Ein kleiner Ruck geht durch meinen Körper und die Türen öffnen sich. Dann geht das Gedränge los. Ich verabscheue es, denn hier verliere ich stets die Orientierung.
Jemand rempelt gegen meine Schulter und für einen Moment habe ich mit dem Gleichgewicht zu kämpfen. Ein hartes Deo steigt mir in die Nase und ich rümpfe sie. Die wenigsten Menschen achten ernsthaft auf ihren Geruch.
„´Tschuldigung“, brummt eine Männerstimme. Er klingt gehetzt, trotzdem ist die Müdigkeit deutlich zu hören. Ich tippe auf verschlafen. Er stellt sich neben mich, als die Bahn wieder startet.
„Sind Sie blind?“, fragt der Mann. Solche Fragen höre ich ständig. Oft allerdings als Getuschel, weil manche Menschen nicht zu verstehen scheinen, dass blind nicht gleich taub oder dumm bedeutete.
„Ja.“ Ich schicke ein flüchtiges Lächeln in die Richtung der Stimme. Das beendet solche Mikrogespräche eigentlich stets, aber nicht dieses Mal.
„Soll ich Ihnen beschreiben, wie die Stationen aussehen?“, fragt der Mann.
„Ich bin diese Strecke schon hunderte Male gefahren“, antworte ich abwehrend. Mein Bruder hatte früher versucht, mir Landschaften zu beschreiben. Er erzählte vom hellblauen Himmel und den Baumkronen, die sich ihm entgegen strecken. Aber ich weiß weder was blau bedeutet, noch wie Baumkronen aussehen. Denn sie sind so hoch, dass ich sie nicht einmal berühren kann. Manchmal bringen mich solche Beschreibungen zum Staunen, aber an anderen Tagen machen sie mich traurig, weil sie mir zeigen, was für mich immer irrational bleiben wird.
„Die nächsten Minuten sind wir eh hier gefangen“, sagt er.
Bestimmt meint er es gut, trotzdem sage ich aus Angst vor Traurigkeit: „Nein, danke.“
Er erwidert nichts. Nur das Deo und sein Oberarm an meinem, verraten weiterhin seine Existenz. Normalerweise habe ich kein Problem mit der Nähe anderer Menschen, aber bei ihm ist es anders und das macht mich nervös.
Er bewegt sich leicht und ich denke, er würde aussteigen, aber stattdessen spüre ich seinen Atem über meine Haut tanzen, als er sagt: „Bald sind wir bei meiner Lieblingsstation angekommen. Eigentlich ist sie wie jede andere Station, aber mit einer Besonderheit. Wissen Sie, welche Besonderheit ich meine?“
Kurz überlege ich, zu wiederholen, dass ich es nicht hören möchte, aber er scheint so selbstbewusst, dass er vermutlich trotzdem weiterreden würde.
„Die Wand ist das Besondere“, sagt er. „Vom örtlichen Flüchtlingsheim wurde sie mit Mosaiken verziert. Auf einem Mosaik ist ein Mädchen zu sehen, das in der Ruine eines Hauses spielt. Manche Überreste sind noch zu erkennen, die wohl einst ihr Schrank, ihr Bett, ihr Tisch waren. Eigentlich ein trauriges Bild, aber da ist eine noch stehende Hauswand, an der sich eine Kletterpflanze entlang rekelt. Sie hat eine einsame, rote Blüte. Rot vermittelt Furcht und ist zugleich warm, wie ein schöner Sommertag auf der Veranda.“
Seine Stimme und seine Nähe, die nicht indiskret, aber trotzdem auffallend sind, lassen meine Sinne verrücktspielen. Oder war es das Bild, dessen Vorstellung mich aufwühlt? Zumindest brauche ich einen Moment, um mich zu erinnern, wie sich Furcht und Wärme anfühlen. Ich räuspere mich. Trotzdem klingt meine Stimme schwach, als ich frage: „Was gibt es dort noch?“
„Über den ganzen unteren Rand zieht sich eine Mosaik-Blumenwiese“, erzählt er und ich denke an den Geruch der Blumen in Omas Garten. „Alle Blumen sind klein, bis auf eine, die hoch zur Decke reicht. Bienen fliegen an ihr entlang und man denkt fast, man wäre draußen in der Natur, wo die Luft frisch und das Leben ruhig ist.“
„Es muss sehr schön aussehen.“ Dieses Mal lächle ich nicht aus Höflichkeit, sondern vollkommen ehrlich.
„Leider nicht“, meint er. Mein Lächeln bricht ab.
„Warum?“
„Das Flüchtlingsheim wurde kurz danach geschlossen. Seit dem Tag scheint keiner mehr sich darum zu kümmern und kaum jemand schenkt den Bildern Beachtung. Nur die Jugendlichen, die nachts herkommen und sich mit ihren Schmierereien auf den Mosaiken verewigen.“
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Der Fremde hat es geschafft, mit seinen Beschreibungen etwas in mir freizusetzen und ich kann es nicht fassen, dass diejenigen, die solche Bilder sehen dürfen, keinen Respekt dafür zeigen.
„Mauritiusstraße“, ertönt die Stimme, die mir verrät, dass ich bei meiner Station angekommen bin. „Danke, dass Sie mir davon erzählt haben. Ich muss aussteigen“, sage ich und schieb mich zur Tür.
„Dann kann ich Sie begleiten. Ich muss auch hier raus.“
Kurz zuvor hätte ich versucht ihn abzuschütteln, aber jetzt freue mich, ihm länger zuhören zu dürfen. Wir verlassen die Bahn und ich mache mich auf zur Treppe.
„Nicht so schnell“, ruft der Mann, dessen Name ich immer noch nicht kenne.
„Was ist denn?“
„Ich muss Ihnen etwas zeigen. Darf ich?“ Ganz vorsichtig legt er eine Hand auf meinen Rücken und führt mich aus dem Menschenstrom heraus.
„Strecken Sie die Finger aus.“ Leicht misstrauisch strecke ich Arm und Finger vor, bis ich eine kalte Fläche berühre und darüber fahre. Mein Herz beginnt wild zu schlagen. Ein Mosaik.
„Das hier ist die Station. Und ich bin täglich ahnungslos daran vorbeigelaufen“, flüstere ich. Unglaubwürdig streiche ich über die Kletterpflanze unter meinen Fingerkuppeln. Dann lasse ich los und fasse zuerst gegen seine Brust, danach hoch in sein Gesicht. Seine Haut ist angenehm rau und seine Wangenknochen deutlich zu spüren. Als mir klar wird, was ich dort tue, ziehe die Hand schnell wieder an mich. Ich habe oft das Bedürfnis, andere Menschen auf meine Art zu sehen, aber eigentlich nicht bei Fremden. Was ist bloß in mich gefahren? „´Tschuldigung“, murmele ich, wie er anfangs.
„Kein Problem. Wollen wir mal einen Tee trinken gehen?“

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Autorin / Autor: Lena Grundmann, 18 Jahre