Wenn du Menschen eine Chance gibst, werden sie dich überraschen

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Anastazja, 15 Jahre

Der Regen prasselte auf sie nieder, als würde er sie zur Rückkehr anspornen wollen. Nervös zerknüllte sie den Zettel in ihrer Hand. Das musste stimmen. Die Adresse schien richtig zu sein. Sie strich sich ein letztes Mal ihren makellos sitzenden Rock zurecht, holte tief Luft und drückte die Klingel am Eingang zur Universität. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, öffnete sich die Tür. Vorsichtig trat sie ein und hörte hinter sich ein dumpfes Geräusch, als die Tür ins Schloss fiel. Nun galt ihre volle Aufmerksamkeit dem Flur vor ihr. Unsicher ging sie ihn entlang und spähte durch die Türen, die sich rechts und links von ihr befanden. Die Räume hinter den Türen schienen ihr aber nicht das zu bieten, was sie suchte.
Endlich hörte sie ein Stimmengewirr und folgte ihm, bis sie an einer halboffenen Tür stehen blieb, wo sich, der Lautstärke nach zu urteilen, viele Menschen versammelt haben mussten. Sie blieb stehen, strich ihre Haare hinter die Ohren, atmete aus, entschied sich aber, dass es wie beim Sprung ins kalte Wasser schnell gehen muss, und trat dann bestimmt durch die Tür.

Ein Dutzend Augenpaare richteten sich im selben Moment auf sie. Ihr Blick schweifte schnell durch den Raum und blieb an einem älteren Herrn hängen.
„Ähh, ist hier das Vortreffen für die Informatik-Olympiade?“, fragte sie unsicher.
„Ja. Und du musst Eveline sein?“ Sie nickte. „Also, dann scheinen wir endlich komplett zu sein. Eveline, du kannst deine Jacke dort in die Ecke hängen.“
Sie nickte wieder und während sie ihre, vom Regen klatschnasse, Jacke auszog betrachtete sie die restlichen Personen genauer. Ungefähr fünfzehn Jugendliche saßen an dem großen Tisch in der Mitte. Alles Jungs, wie sie schon vermutete. Sie hatte aber gehofft, es würde außer ihr zumindest noch ein weiteres Mädchen dabei sein. Sie ärgerte sich in Gedanken über sich selber. Langsam musste sie sich daran gewöhnen, dass sich die Mädchen nicht für Informatik interessierten.

„Na dann, lasst uns mit der Vorstellungsrunde beginnen. Ich bin Herr Buchholz, mag Spaghetti und ich reise viel. Jetzt gehen wir im Uhrzeigersinn weiter…“
Es folgte eine Reihe von Namen, die sich Eveline eh nicht merken konnte. Das war schon immer ihre Schwäche gewesen. Sie betrachtete die Jungs genauer. Einige waren durchaus hübsch, überhaupt keine typischen Informatik-Nerds. Aber alle blickten sie so an, als ob sie sich nicht sicher waren, was sie hier verloren habe. Sie wurde nicht ernstgenommen. Nicht wie ein vollständiges Gruppenmitglied, das auch etwas Nützliches beitragen könnte. Genau das ärgerte sie am meisten.

Ihr Gedankenlauf wurde von einem Räuspern unterbrochen.
„Ich würde vorschlagen, ihr bildet Vierergruppen. Wollt ihr es selber machen oder soll ich die Liste alphabetisch durchgehen?“
Ein einstimmiger Protest entschied die Sache zum Vorteil des ersteren. Eveline schaute sich auf der Suche nach einigermaßen nett aussehenden Jungs um. Ihre Existenz wurde aber gekonnt ignoriert, nacheinander drehten sich die um, die sie mit einem hoffnungsvollem Lächeln angeblickt hatte.
Die weiße Uhr in der Ecke tickte langsam vor sich hin. Ihr letzter Hoffnungsschimmer verblasste mit jeder Sekunde, die verging, immer mehr. Es bildeten sich klare Gruppen, nur sie stand immer noch alleine in der Mitte des Raumes.

„Seid ihr soweit?“ Herr Buchholz schaute abwartend in die Runde.
Ein zustimmendes Gemurmel ertönte.
„Ähm,… Ich… Ich habe keine Gruppe.“
„So? Wer würde denn Eveline in seine Gruppe aufnehmen?“ Ein weiterer Blick in die Runde. Aber keiner erklärte sich bereit, man starrte zur Seite, irgendjemand würde sicher strecken…
„Wenn es nicht klappt, dass ihr euch selber einteilt, so muss ich die Liste doch alphabetisch durchgehen.“

Es trat eine abwartende Stille ein. Die Uhr tickte weiter vor sich hin. Keiner rührte sich. Jeder schien die Möglichkeiten abzuwägen und das kleinere Übel herauszusuchen.
Eveline fühlte sich in ihrer Haut sehr unwohl. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken, denn obgleich die Jungen bis jetzt keinen direkten Grund hatten, sie nicht zu mögen, so würden sie diesen zweifelsohne bald bekommen, wenn sie in keine Gruppe aufgenommen werden würde. Es verstrichen weitere endlose Sekunden.

Da schellte plötzlich eine Gestalt in die Höhe. Ihr fielen gleich seine vielen Sommersprossen im Gesicht auf, die sein Gesicht strahlen ließen. Seine bernsteinfarbenen Augen lächelten die Welt offen an.
„Sie kann in unsere Gruppe kommen, Herr Buchholz. Ähm, natürlich, wenn du damit einverstanden bist.“ Er blickte sie einladend ein.
„Ja, natürlich. Ich meine: sehr gerne.“
Der ältere Herr nickte zufrieden. „Na also, es geht doch. Aber jetzt macht euch mal an die Arbeit. Es liegen Sachen für euch bereit, die ihr bearbeiten müsst.“

Eveline ging auf ihre neue Gruppenmitglieder zu.
„Ich bin Henry“, sagte der Sommersprossige, „Und das sind Benni und Finn. Willkommen im Team!“
Sie setzte sich an den Computer zu den anderen.
„Warum habt ihr mich eigentlich aufgenommen? Ihr musstet ja nicht… Und ich meine, ihr kennt mich doch gar nicht.“ Sie schaute Henry verwundert an.
Er lächelte gewinnend zurück: „Gerade deshalb. Ich finde, Fremde können einen echt überraschen, wenn man ihnen nur die Chance dazu gibt.“

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