Gradeaus

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Brela, 15 Jahre

Wir können wegfahren. Einfach so. Wär' doch cool, oder? Jetzt. Hier. Los, worauf warten wir. Ich trag dann so 'ne rote Hose, so ab der Hüfte ungefähr. Und dazu 'ne rote Jacke aus demselben Stoff. Dadrunter ein weißes Unterhemd. Keinen BH. Wer braucht schon BHs? Und du, du bist ein bisschen größer als ich. Ein bisschen draufgängerischer. Aber wenn's drauf ankommt, bin ich der Romeo. Du bist so jemand, der auf den ersten Blick schon auffällt, aber jetzt nicht als die Schönheitskönigin des Orients oder so. Du hast so eine Aura, die nicht jeder versteht. Nur wenige - und dazu zähle ich. Also diese ganzen Spießer-Rentner, die sich amüsiert einen Till Schweiger nach dem anderen reinziehn' und danach sagen: „Ja, ganz schön anspruchsvoller Film, aber sehr lehrreich!“, die gucken dich erstmal schief an. Du bist so eine, die vom Fahrkartenkontrolleur erst gar nicht kontrolliert wird. Aber wenn man dich einmal geknackt hat, dann bist du super offen und schön. Wirklich schön.
Ich weck' dich also um drei Uhr morgens,
„Psssst!“
Ich weck' dich also um drei Uhr morgens,
„Pssssst! Hey!“
Ich weck' dich also um-
„Alter, jetzt mach doch auf!“

Du öffnest also dein Fenster mit einem vor Müdigkeit implodierten Gesicht und fragst:
„Diggah, was is' los?“

Zehn Minuten später sitzen wir in einem schwarzen Caprio mit goldener Aufschrift, du trägst Jeans und Shirt deines Vaters und fragst mit einer Stimme, mit der man Straßen asphaltieren könnte:
„Woher haben wir dieses beschissene Caprio?“
Und ich:
„Woher hast du diese beschissenen Klamotten?“
Und gebe dir eine blaue Hose und eine blaue Jacke.
„Brudi ich mag dich echt, aber was müssen wir denn hier jetzt einen auf Partnerlook machen?“
„Bist du farbenblind? Du bist blau, ich bin rot.“

Dann jodeln wir. Wir haben keinen Plan, wie lang wir noch in unserer Unterwäsche hocken werden. Wir schwitzen. Wir lachen. Wir weinen. Wir nehmen nichts mit außer dem Haushaltgeld. Noch in der ersten Nacht wollen wir uns die Haare abrasieren. Wir halten an einer Tanke. Ich kehre mit einem Rasierer zurück. Du sagst:
„Diggah, wo willst du den einstecken? Siehst du hier irgendwo 'ne Steckdose?“
Ich sage:
„Nein.“
Ich tausche den Rasierer um. Ich komme wieder. Du sagst:
„Alter, was wollen wir denn mit 'nem Ladyshaver?“
Ich sag:
„Keine Ahnung Mann, wie viele Sorten von Rasierern gibt’s denn?“
Und du:
„Mann, es gibt die für unten und die für oben!“
Und ich:
„Bist du rasiert?“
„...Was?“
„Als ob du jetzt rasiert bist, was soll das denn?“
Wir tauschen den Rasierer noch zwei Mal um, bis wir schließlich mit einer Linkshänder-Schere für Kinder an uns 'rumhantieren. Die war im Angebot.
Tagsüber schlürfen wir Eiskaffee und blasen Kaugummi. Wir hören keine Musik. Aus Prinzip. Legen wir so fest. Es gibt auch keine Begründung, das ist das Prinzip. Wir schlafen nicht. Aus Prinzip. Ich schwör's, wir schlafen echt nicht. Gar nicht. Wir jodeln, aus Prinzip. Und manchmal schweigen wir, aus Prinzip. Wir tragen Sonnenbrillen, so spitze wie die ganzen Twiggys aus den achtzigern, die immer an ihren FKK-Stränden rumgehampelt sind zu Kim Wilde und nichts anhatten außer ihrer Sonnenbrille. Haben wir auch mal probiert, aber da sind gleich zwei Dorfdeppen hinter uns hergegeiert und haben gefragt:

„Na ihr zwei Hübschen, hoabt's a bissel Hunger auf Weischwürschtli?“

Die Prinzipien müssen ohne Absprache stattfinden. Man muss akzeptieren, ein Prinzip nicht zu verstehen, so lange man trotzdem mitmacht. Abblocken zählt nicht, nicht mal als Prinzip. Abblocken tun nur Arschlöcher.
Es ist Hochsommer. Wir schwitzen vor Hitze, wir zittern vom Koffeinschock und halten an Kuhfeldern, um den Kühen demonstrativ in die Augen zu starren. Aus Prinzip. Wir halten Füße und Hände raus. Manchmal verfolgen wir Autos, so lange bis die Fahrer aussteigen und uns drauf ansprechen. Dann schlürfen wir an unserem Eiskaffee und fahren weiter. Manchmal frag' ich mit einer Stimme, mit der ich als Azubi bei Real sofort genommen werden würde:
„Wie spät ist es?“
Und du, mit einer Antwort, die sogar die schwangere Kuh vom Feld weiterbringen würde als mich:
„Juli.“
Und ich sage dann:
„Akzeptiert.“
Und du:
„Toleriert.“
Und wir:
„Gradeaus.“
Und du:
„Woher haben wir dieses verdammte Caprio?“

Manchmal nehmen wir Anhalter mit. Selten, aber manchmal. Die meisten steigen sowieso schon an irgendwelchen Vororten von Vororten aus, weil sie das Kaugummi-Geplatze und Eiskaffee-Geschlürfe nicht aushalten. Nur einmal, da haben wir so einen Gitarren-Hippie. Wir nennen ihn Topf. Wir gründen eine Band, aus Prinzip. Trotzdem verbieten wir ihm Musik zu machen. Topf akzeptiert das. Topf hat's verstanden. Wir planen mit ihm auf Tour zu gehen. Topf trinkt selbstgebraute Ingwer-Matsche und bleibt zwei Tage. Einmal kratzen wir ihm Geld für ein Erdnussbutter-Marmeladen-Toast zusammen. An 'ner Tanke. An der Tanke, an der wir den Ladyshaver gekauft haben. Wir sind bestimmt schon zum vierten Mal an der vorbeigefahren. Irgendwie kommen wir nicht aus unserem Kreis raus und irgendwie wollen wir es auch nicht. Da hauen wir endlich ab aus all der Not heraus und fahren immer im Kreis. Irgendwie beknackt, aber irgendwie kriegen wir es nicht anders in. Topf geht alleine in die Tanke und wir fahren ohne ihn weiter, mit seiner Gitarre. Ich drücke das Gas, du steuerst. Es passiert aus Intuition. Ich weine. Du jodelst. Wir verstehen uns nicht mehr. Aber wir haben keine Angst, weil es aus Prinzip passiert ist. Wir vergessen Topf. Wir überfahren seine Hippie-Gitarre und du sagst:
„Hatte sowieso 'ne beschissene Farbe. Und Topf hat bestimmt eh nicht gut gespielt.“

Unser Eiskaffee ist alle. Unser Kaugummi ist durchgekaut. Das erste Mal wird es Nacht. Das erste Mal bin ich müde. Ich sage:
„Ich bin müde.“
Du sagst:
„Ich auch.“
Du sagst:
„Ich hab Hunger.“
Ich sag:
„Ich auch.“

Wir halten am nächstbesten Imbiss und bestellen. Und nochmal. Und noch eins. Am Ende jedes der drei Gerichte zwei Mal. Wir schlafen ein. Der verpickelte Praktikant will kassieren. Er zeigt uns den Weg zum nächsten Motel. Bestimmt sind wir schonmal dran vorbeigefahren.
Wenig später sitzen wir in einem fünfeckigen Raum und reden zum ersten Mal wieder so richtig und unterhalten uns über diese fünf Ecken und finden eine sechste Ecke und stellen uns in jede Ecke einmal und vergleichen die Ecken nacheinander miteinander und finden erstaunlich viele Gegensätze heraus und lachen darüber, dass diese sechs Ecken so ähnlich sind und du fragst, woher wir dieses verdammte Caprio haben und wir johlen und schreien und lachen und weinen und dann küsse ich dich.
Ich küsse dich.
Und du guckst mich an.
Und küsst zurück.
Und wenn wir schon fast komplett und vielleicht auch mehr und du grade dabei bist, dann nehme ich auf ein Mal diese blöde rote Jacke und gehe. Sie stinkt nach Schweiß, Liebe und Autoleder. Ich lasse dich verwirrt und stammelnd zurück und fühle mich miserabel dabei. Aus einer mir unbegründbaren Angst heraus habe ich eine Energie in mir, die mich treibt zu rennen, zu rennen und laufen, wie ich noch nie jemals gelaufen bin, zu weinen, wie ich noch nie jemals geweint habe, zu hören, wie ich noch nie meine nackten Füße auf dem nassen Asphalt habe hallen hören. Ich höre dich mit einer Stimme, mit der man gegen den Strom schwimmen kann, sagen: „Wo ist dein Prinzip?“
Auf dem Bauch einer Kuh schlafe ich ein. Endlich schlafe ich ein. Ich höre ihr großes Herz schlagen und stell mir vor, es ist deins.

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