Persönliche Bilanz: Zehn Jahre Sexismus

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Aylin, 23 Jahre

In der letzten Nacht habe ich geträumt, dass mich ein großer Mann angreifen würde. Ich weiß nicht mehr, was er wollte, ich glaube, er wollte mich nur ein bisschen ärgern, wenn überhaupt. Ich aber empfand ihn und alles, was er potentiell tun würde, als sehr bedrohlich. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, wie ich das im Traum noch nie und schon gar nicht im echten Leben gemacht habe, ich habe ihm meine Fäuste in die Eier gehauen und mein Knie ins Gesicht, so fest ich konnte. Es hat ihm nicht wehgetan, er hat gelacht. Vielleicht fühle ich mich auch so in der Welt: Menschen benehmen sich ständig daneben, ohne das zu intendieren oder wahrzunehmen. Sie unterbrechen, erklären, zeigen sich großzügig, wenn sie dir explizit deine Rechte einräumen, sie missachten dich und sind stolz, wenn es ihnen hinterher auffällt und sie es thematisieren können. Und dann bin da ich, die ich mich wehren möchte. Im Traum mit roher Gewalt, die nicht stark genug ist. Im echten Leben mit Worten, und meine Worte sind sehr stark, aber kein Wort ist stark, wenn dein Gegenüber taub dafür ist.

Das wäre also ein Anfang eines Textes über Sexismus. Ein Text darüber, wie Sexismus nervt und wehtut und kaputtmacht. Dieser Anfang soll aber Fragment bleiben, denn jetzt wird es metaliterarisch.
Liebe Mädchen, liebe junge Frauen, die ihr eure Texte eingesendet habt. Ich habe einige davon gelesen, vor allem solche, die den alltäglichen, salopp daherkommenden Sexismus behandeln. Und eure Texte haben mich wütend gemacht, denn Sexismus macht mich wütend, und was ihr schildert, macht mich wütend, und es tut mir leid, dass junge Frauen und Mädchen, die zehn Jahre jünger sind als ich, ähnliche Scheiße durchmachen müssen wie ich, früher und heute. Haben wir das nicht so langsam durch? Anscheinend nicht. Scheiße!

Also: große, große Wut, tiefes Mitgefühl, mit euch und mit mir, meinem vergangenen Ich und meinem heutigen. Gleichzeitig bewundere ich euch und es erleichtert mich, dass ihr Texte schreibt, dass ihr euch auskotzt, dass ihr das Wort Sexismus kennt, dass ihr die Scheiße, die euch passiert, nicht nur als Scheiße erkennt, sondern sie auch einordnen könnt. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch euch das wehtut, dass es wehtut, zu erkennen, dass ihr mies behandelt werdet, auch wenn ihr den Grund dafür irgendwie kennt. Ich glaube, dass es trotzdem gut und irgendwie, auch wenn es nur ein Trostfortschritt ist, immerhin irgendein Fortschritt ist. Denn hinterher zu erkennen, wann man mies und sexistisch behandelt wurde, verletzt auch. Vielleicht nicht mehr, wahrscheinlich aber auch nicht weniger. Mich bringt es außerdem in die Bredouille mit mir selbst, weil ich das Gefühl habe, so lange mitgemacht zu haben. Ich gebe mir keine Schuld daran, aber ich habe großes Selbstmitleid, wenn ich daran denke, wie ich versucht habe, in dieser sexistischen Gesellschaft über Wasser zu bleiben. Und ich denke, manchmal versuche ich das immer noch, und zwar durch Mittel, die mir eigentlich nicht recht sind. Indem ich mich weiblich verhalte, indem ich harmonisiere, indem ich mich unsicher zeige, auch wenn ich weiß, dass ich verdammt nochmal Recht habe.

Und ich freue mich, wenn ihr es schafft, früh zu erkennen, dass nicht ihr das Problem seid, sondern der Sexismus, der euch umgibt. Wenn ihr euch zusammentut, wenn ihr mit eurer besten Freundin und mit allen Menschen, mit denen ihr mögt und könnt, darüber redet. Wenn ihr Texte schreibt. Wenn ihr euch informiert, wenn ihr gemeinsam wütend seid, wenn ihr erkennt, dass die Scheiße, die euch passiert, nicht nur euch passiert. Wenn ihr seht, dass sie auch euren Freundinnen und Schwestern, euren Müttern und Tanten passiert und passiert ist, und dass dafür nicht ihr verantwortlich seid. Danke für eure Texte und danke dafür, dass ihr mich beeindruckt und ermutigt habt!

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