Nicht. Meine. Schuld.

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Wiebke Grannemann, 17 Jahre

Ich ziehe die Träger meiner Prada-Tasche näher an mich, während ich die Goethestraße entlang eile. Draußen ist es kalt und ich friere, obwohl ich meinen neuen Chanel-Mantel anhabe. Ich bin auf dem Weg zu „Medici“, einem noblen, schicken Restaurant in der Frankfurter Innenstadt, in dem ich mich mit meiner Freundin Abigail treffe. Wir haben Weihnachtsferien, ich bin vom Internat nach Hause gekommen und so versuche ich, meine restliche Zeit daheim vor allem damit zu verbringen, Kontakte zu pflegen.

Die Absätze meiner High Heels verursachen ein klackerndes Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster. Ich biege nach links in eine Seitenstraße ein, um eine Abkürzung zu nehmen, denn ich bin schon jetzt spät dran. Als ich kurz stehen bleibe, um einen schnellen Blick auf die silberne Armbanduhr an meinem Handgelenk zu werfen, bemerke ich einen Mann, der gegen eine Hauswand gelehnt auf dem kalten Boden sitzt. Vor ihm steht ein Pappbecher und seine Haare sehen strähning und fettig aus, als hätte er sie schon eine Weile nicht mehr gewaschen. Daraus schließe ich sofort, dass er obdachlos ist. Er trägt eine Jacke und Lederhandschuhe und ist geschätzte dreißig Jahre alt. Während ich den Mann so betrachte, fange ich tatsächlich fast damit an, über die Hintergründe seiner Lebenssituation nachzudenken. Doch dann denke ich, dass es mich sowieso nichts angeht.

Auf einmal dreht der Obdachlose seinen Kopf in meine Richtung. Er schaut mir direkt in die Augen und sein trotziger, wenn auch müder Blick geht mir sofort unter die Haut. Aufmerksam mustert er mich, fast anklagend. Ich fange an, mich unwohl zu fühlen. Ich schaue weg.

ʽIst ja nicht meine Schuldʼ, sage ich mir, ʻdass so ein Mann im Winter auf dem dreckigen, eiskalten Kopfsteinpflaster schlafen muss, mit Essen, das gerade so zum Überleben reicht, und nichts als einer einzigen Jacke, um sich vor Wind und Wetter zu schützen. Es ist nicht meine Schuld, dass er arm ist... und ich nicht. Es ist nicht meine Schuld, dass er nichts hat... und ich alles.ʼ

Schnell gehe ich weiter. ʻJeder kann doch wählenʼ, denke ich. ʻEr müsste nur einfach etwas ändern. Das muss doch gehen.ʼ Ich versuche, mich selbst zu überzeugen. ʻJeder kann seine Situation irgendwie ändern. Man muss nur aufstehen und es tun. Jeder kann zwischen Betteln und Besitzen wählen.ʼ Dann, noch einmal: ʻEs ist nicht meine Schuld. Es kann gar nicht meine Schuld sein.ʼ

Das ist es, was ich denke, während ich in Frankfurt durch die Seitenstraße einer vornehmen Einkaufsstraße laufe, meine teure Handtasche an mich gepresst.
Dann krame ich meine Kopfhörer hervor und stöpsele sie ein.
„Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist; Es wär nur Deine Schuld, wenn sie so bleibt“, singen Die Ärzte.

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