Schubladen

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Johanna Vogt, 22 Jahre

Man rechnet natürlich nicht damit, dass in der Pause jemand direkt hinter der Schultoilettentür steht. Dies war  aber der Fall und deswegen entfuhr mir ein kleiner Schreckensschrei. Erst nachdem ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, wunderte ich mich, dass dieser jemand hinter der Tür ein Junge und kein Mädchen war.
„Äh, sorry, dass ich dich angeschrien habe, aber kann es sein, dass du hier nicht richtig bist?“, fragte ich und runzelte die Stirn. Der Junge antwortete nicht, sondern starrte mich einfach nur mit weit aufgerissenen Augen an. Vielleicht war es ihm peinlich, dass er sich in der Tür geirrt hatte.  Aber egal, ich quetschte mich einfach an ihm vorbei und verschwand in einer Kabine. Als ich kurz darauf wieder herauskam und mir die Hände waschen wollte, stand er komischerweise jedoch immer noch dort.
Ich nahm mir zwei Papiertücher zum Trocknen und sah ihn verwirrt an. Er schaute verwirrt zurück.
„Brauchst du irgendwie Hilfe?“, fragte ich, während ich die Tücher in den Papiereimer schmiss. „Oder bist du festgewachsen?“
Er zuckte mit den Schultern und fuhr sich unsicher mit seiner Hand durch das kurze, dunkle Haar.
„Ich kann gerne einen Rettungswagen rufen, du musst nur Bescheid sagen!“, scherzte ich, doch ihm schien gar nicht zum Lachen zu Mute. Seine Mundwinkel bogen sich weit nach unten und ihm kullerte eine Träne über die Wange. Ich hatte noch nie einen Jungen weinen gesehen.
„Soll ich vielleicht wirklich jemanden holen?“, fragte ich und stütze mich nervös am Waschbecken ab.
Er zuckte nur wieder mit den Schultern.
„Okay“, sagte ich, „wir kennen uns zwar nicht, aber falls du jemanden zum Reden brauchst, nur raus mit der Sprache!“
Er holte tief Luft und sagte dann: „Die Jungstoiletten sind nicht so schön.“
„Kann sein“, sagte ich überrascht über seine Antwort, „ich war noch nie bei den anderen.“
„Die anderen“, wiederholte er meine Worte bedächtig. „Schon komisch, dass wir das so sagen.“
Ich wusste nicht so genau, was er damit meinte.
„Vielleicht streichen sie die Wände bei euch ja auch rosa, wenn du ganz lieb danach fragst“,  versuchte ich ihn wieder aufzumuntern. Er zog als Antwort bloß die verquollene Nase hoch, woraufhin ich ein Stück Papier abriss, um es ihm zu reichen. Er machte einen Schritt auf mich zu, um es entgegen zu nehmen und aus irgendeinem Grund waren wir plötzlich so nahe beieinander, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. Mir fiel auf, dass er nicht so stark nach Deo roch, wie die Jungen aus meiner Klasse. Es war ein natürlicher Geruch. Ein guter Geruch. Er sorgte dafür, dass ich mich auf eine angenehme Art elektrisiert fühlte. Ich schloss kurz die Augen, um mich wieder konzentrieren zu können.
„Du bist neu auf der Schule, oder? Ich heiße übrigens Lea.“
„Momo“, stellte er sich vor. „Ja, heute ist mein erster Tag hier.“
„Achso“, lachte ich. „Meine Mutter würde jetzt sowas sagen, wie: Daher weht also der Wind. Ist deine Familie denn neu in die Stadt gezogen?“
„Ich alleine“, antwortete er. „Ich wohne nicht mehr bei meinen Eltern.“
„Oh.“ Etwas Tiefsinnigeres fiel mir leider nicht ein und ich traute mich auch nicht, weiter nachzufragen. Wieder kullerte Momo eine stumme Träne über das Gesicht. Peinlich berührt schaute ich mich um.  Mein Blick blieb an der Wanduhr hängen.
„So sehr ich es auch schätze, deine Bekanntschaft gemacht zu haben, Momo, aber wir sollten jetzt mal wieder zurück in unsere Klassen gehen“, versuchte ich mich aus der Situation zu befreien. „Und nur so als Tipp fürs nächste Mal: Die Männertoiletten sind am anderen Ende des Gangs.“
Er suchte mit seinen Augen nach meinen.
„Ich weiß“, sagte er dann mit einem Unterton, den ich nicht genau zu deuten wusste.
„Okay, ähm, vielleicht sieht man sich ja mal.“ Ich schlängelte mich an ihm vorbei und griff nach der Türklinke. 
„Lea?“
Als ich mich wieder zu ihm umdrehte, sah er aus, als würde er über eine schwierige Matheaufgabe nachdenken.
„Was ist denn noch?“
„Ach, nichts“, log Momo.
„Ich mag es nicht, wenn Leute mich anlügen.“
Er hatte aufgehört zu weinen und sah mich jetzt entschlossen an.  „Und ich mag es nicht, wenn man einfach annimmt, dass ich männlich sei.“
„Hä?“ Ich ließ die Türklinke wieder los. „Was meinst du damit?“
„Ist das nicht eindeutig? Ich bin kein Junge, ich bin ein Mädchen.“
Ich kicherte. „Man kann doch nicht einfach sagen, dass man ein Mädchen ist, damit man die Frauentoiletten benutzen darf, weil es bei den Männern so dreckig ist. Aber, nice try!“ Ich grinste Momo an, aber er grinste komischerweise nicht zurück.
„Ich sehe vielleicht noch nicht so aus, aber ich bin ein Mädchen. Was ist denn so schwer daran, einfach mal bunt und nicht nur schwarz-weiß zu denken?“
Es fühlte sich an, als hätte Momo mit seinen Worten einen Schalter umgelegt, der den Moment einfror. Unsere Blicke ineinander verhakt.
Er war ein Mädchen? Das war doch paradox! Tausend Gedanken schossen mir in den Kopf. Ich wusste, dass ich irgendetwas sagen sollte, aber mir fiel nicht ein, was. Deswegen standen wir einfach nur so da. Vielleicht hätten wir das auch für immer getan, wenn mir nicht jemand von außen mit voller Wucht die Tür gegen den Kopf gerammt hätte.
„Was stehst du auch so blöd da rum“, zickte die hereinplatzende Siebtklässlerin mich an, als ich aufjaulte. „Und seit wann sind hier eigentlich Jungs erlaubt?“, fügte sie mit hochgezogener Augenbraue hinzu.
Zu meiner eigenen Verwunderung hörte ich mich sagen: „Momo ist kein Junge, sondern ein Mädchen. Und eigentlich ist das doch auch völlig egal. Wir sind doch alle einfach nur Menschen.“
Nervös lugte ich zu Momo hinüber.
Sie lächelte.

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Autorin / Autor: Johanna Vogt, 22 Jahre