Von dem Gefühl

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Anne Sophie Spieler, 20 Jahre

Artikel 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Artikel 3 (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt.

Das entspricht nicht der Realität. In Deutschland. 2020.
Und eigentlich müsste das ein Skandal sein.

Man könnte meinen, dass man(n) inzwischen in einer angemessenen Realität angekommen ist. Scheinbar steht die ganze Welt für „Frauenpower“ auf. Allen voran alte, weise Männer in Vorstandspositionen. Jene, die ermüdende Diskussionen mit anderen männlichen Privilegierten, zumeist aus ihrer Blase führen, über „diese“ Frauen, nicht mit „diesen Frauen“.

Wenn man sich ansieht, wer Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik ist, dann ist es keine Abnormität, dass eben diese nach ihren Maßstäben handeln, nämlich der Machterhaltung. Wäre es Frauen möglich, jede Position in unserem Land zu erreichen, weil Männer und Frauen gleich bezahlt werden, weil Männern mindestens die gleiche Verantwortung für das Kind auferlegt ist und zwar nicht nur die finanzieller Natur, dann würden wir eine totale Diskursverschiebung erleben. Es würde vor allem eines bedeuten: Konkurrenz. Auf einmal gäbe es da einen unfassbaren Zuwachs an Frauen, die mindestens genauso kompetent sind, wie es Männer vorgeben zu sein und daraus resultiert Angst. Die Angst um Machtverlust, Prestigeverlust und die Angst vor dem Versagen. Weil Frauen mindestens genauso qualifiziert sind, werden sie eben öffentlich diffamiert. Bloß nicht über die inhaltliche Ebene sprechen, wenn man(n) sie denn mal (aus)reden lässt. Über Frauen in den Medien oder im öffentlichen Leben wird weit abfälliger geurteilt. Es wird sich mit dem Kleidungsstil, mit dem (nicht) vorhandenen Make-up, der Behaarung, der Figur und was einem denn sonst gerade in den Sinn kommt beschäftigt. Das passiert einseitig. Das Wichtigste ist das Absprechen der Kompetenzen, die Ignoranz. Dabei es ist wohl längst jedem klar, dass es sich um eine so elementare Ungerechtigkeit handelt, die sich durch nichts, aber auch gar nichts rechtfertigen lässt. Im Gegenteil, es wird in unserem Grundgesetzt festgehalten und doch passiert es jeden einzelnen Tag, in Deutschland, im 21 Jahrhundert. Das sind die Fakten, die nicht zu leugnen sind.

Was aber mindestens genauso schlimm ist, wenn nicht noch so viel herabwürdigender, ist der alltägliche Umgang. Ich bin mir sicher, dass fast jede Frau weiß, was ich meine, wenn sie „dieses Gefühl“ beschleicht. Es ist ja nicht nur so, dass der öffentliche und digitale Frauenhass und die Diffamierung, die Gewalt und Herabwürdigung der Frau alles wäre, als ob es nur das wäre, was wir oftmals benennen können. Es sind Situationen, in denen ich als junge Frau, in meinem Job, oder Studium von (älteren) Männern, die mir gänzlich unbekannt sind, geduzt werde. Es sind Situationen, in denen ich als „Mädel“ angesprochen werde, Situationen, in denen Blicke oder Reaktionen, Geräusche und Gestik mich auf eine Position drängen wollen, auf die ich nicht gehören will. Wir als Frauen merken, dass wir nicht ernst genommen werden, dass die Konversation, die abläuft, so belanglos sie sein mag, asynchron ist, ohne jegliche Berechtigung. Und das Schlimme ist, dass es immer wieder passiert, dieses Gefühl, das viele und da schließe, ich mich ein, oftmals nicht einmal betiteln können und wer würde dir dann glauben? Was passiert dann mit diesem unbehaglichen Gefühl? Wegen eines Gefühls zeigt man niemanden an. Wegen eines Gefühls will man keine Diskussion anzetteln, die an der Basis unseres Zusammenlebens rüttelt, weil Gefühle eben keine Argumente sind. Am Ende wird es doch heißen, im Zweifel für den Angeklagten und wir, haben unsere Gefühle öffentlich zur Schau gestellt. Dabei ist eben keine Diskussion, die nur mit Argumenten geführt werden kann, ganz offensichtlich nicht, denn dann gäbe es rein nach gesetzlicher Lage wohl keine. Gleichberechtigung ist ja keine freiwillige Verpflichtung. Das darf man nicht vergessen, auch wenn uns immer wieder weis gemacht werden soll, dass wir Unmögliches verlangen und uns gefälligst mit Kompromissen zufrieden zu geben haben, denn unserer Gegenseite würde es ebenfalls nicht tun. Es ist eine hochsensible, hochemotionale Debatte, weil sie zu einer gemacht wurde. Weil Ungerechtigkeiten, Diffamierungen, Beleidigungen, Gewalt und Verachtung eine zentrale Rolle spielen. Weil solche Themen immer emotional aufgeladen sind, wie könnten sie es nicht sein, was wären wir dann für eine Gesellschaft?

Eigentlich dürfte es keine Feminismus Debatte geben, dass es sie gibt, ist ein Umstand, der mich traurig, aber vor allem wütend macht. Diese Wut ist berechtigt und sie verschwindet nicht, auch wenn ich immer und immer wieder bei verschiedenen Instanzen den Finger in die Wunde lege. Denn Gleichberechtigung ist nichts, was man ein bisschen machen, es ist nichts was beklatscht werden sollte, nichts was in irgendeiner Art und Weise zelebriert werden sollte. Weil es schlicht und ergreifend Normalität sein müsste. Jeden Tag, für jeden Menschen, überall. Und wenn ich von der Gleichberechtigung der Frau spreche, dann beinhaltet das nicht nur weiße Frauen, die weißen Männern untergeordnet werden, es betrifft jede Frau. Ob jung oder alt, egal welcher Herkunft, egal welcher sexuellen Orientierung, Weltanschauung, Religion oder sonstigem. Echter Feminismus schließt all das mit ein und dass dieser Umstand alles noch schwieriger macht, ist offen gesagt eine Katastrophe für eine Gesellschaft, die sich Toleranz und Respekt auf die Fahne schreibt, die Fahne, die alte, weiße Männer höhnend über uns schwenken. Vielleicht lassen sie uns einmal den Schaft, dieser anfassen, wie sinnbildlich...
Gleichberechtigung, heißt auch sich seiner Privilegien bewusst zu werden und etwaige Legitimationen in Frage zu stellen. Denn wer Gleichberechtigung verweigert, sei es aktiv oder passiv, der entscheidet sich gegen Respekt, Toleranz, Chancengleichheit und die Würde des Menschen. Und das IST ein Skandal.


*Quellen*
Grundgesetz, Herausgeber: Deutscher Bundestag, Berlin 2017

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Autorin / Autor: Anne Sophie Spieler, 20 Jahre