Intensivstation

Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Miriam Weber, 21 Jahre

"Möchtest du darüber sprechen?", fragt meine Mutter und blickt kritisch auf meine inzwischen roten Hände, die ich immer weiter schrubbe.
"Was meinst du?", frage ich vorsichtig, während ich eine neue Portion Peeling aufstreiche.
Natürlich weiß ich, was sie meint. Und ich würde gerne darüber sprechen, nur finde ich einfach keine Worte. Stattdessen wasche ich meine Hände und Arme, bis ich sie nicht mehr spüre.
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Mein erster Patient auf der IST wurde von der Pflegerschaft nur "das Mammut" genannt. Eine sehr zutreffende Beschreibung. Er war schon seit ein paar Tagen mit schweren Atemproblemen da, die sich konstant verschlechterten. Eigentlich war er ziemlich nett, aber anstrengend, da er so viel selber machen wollte, und uns damit in der Arbeit behinderte. "Bewusstlose sind da praktischer", dachte ich humorlos bei mir. Nach kurzer Zeit fiel er mit seiner Sättigung in einen kritischen Bereich, obwohl man ihm bereits das Maximum an Sauerstoff mit einer klebrigen Nasensonde zuführte. Die Ärzte schlugen ihm vor, ihn zu intubieren. Wie sie es erklärten, klang es, als würde er morgen, spätestens übermorgen, geheilt aus seinem kurzen Nickerchen erwachen, und dann dürfte er nach Hause. Selbstverständlich unterschrieb er den Eingriff. Man ließ ihn anschließend mit Propofol volllaufen und dann ging es los. Der Schlauch war schnell drin, aber so richtig stimmte das Ergebnis laut Maschine nicht. Die Ärzte probierten eine Weile herum und beließen es dann dabei.
Eine Woche später liefen circa 8 Medikamente über Perfusoren in das Mammut. Ich hatte eine Patientenverfügung in seiner Akte entdeckt, laut der er keine lebenserhaltenden Maßnahmen wünschte. Aber er hatte der Intubation zugestimmt, also durfte jetzt ein Gerät für ihn atmen. Ich fragte mich, ob man immer wartet, bis der Patient fast erstickt, um ihm dann anzubieten, sein Leben zu retten. Wer würde da Nein sagen?
Eine weitere Woche später wurde er an die Dialyse angeschlossen. Das Blut wurde aus ihm gesaugt, chemisch behandelt und dann wieder in ihn hineingepumpt. Seine Gliedmaßen waren aufgequollen und man hatte ihn mittels eines Krans in ein Schwerlastbett verlegt. Selbst die Putzleute hatten zu diesem Spektakel kurz innegehalten. Ich verwarf meinen Gedanken, dass Bewusstlose leichter zu handhaben waren.
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"Wie sind denn deine Kollegen so?", will meine beste Freundin plötzlich wissen.
Ja, wie sind sie bloß? Sie lästern über Patienten und übereinander, sind manchmal takt- und rücksichtslos. Aber sie meinen es nicht böse. Ich bin eigentlich auch ein guter, höflicher Mensch, aber diese Arbeit lässt keinen Raum für Etikette. Jeden Tag ist man mit den schlimmsten Abgründen konfrontiert, entweder man nimmt es mit Humor, oder man bekämpft Feuer mit Feuer.
"Nett", sage ich. Und ich meine es so.
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Ich kam gerade aus dem Isolationszimmer, nachdem ich den Patienten vom Schieber geholt hatte, und steuerte auf das Stationszimmer zu.
"Die Totenscheine sind fast alle, müssen wir mal nachbestellen. Was meint ihr, 15 Pack?", tönte es mir entgegen.
"Vielleicht auch nur 10, ich hab nur noch 2 Wochen, dann bin ich hier durch", warf der diensthabende Assistenzarzt kichernd ein. Lahmes Gelächter der übrigen Schwestern ertönte daraufhin. Ich bog um die Ecke und sah die Schichtleitung nachdenklich auf den Computer starren, während er die Bestellung fertig machte. Der Assistenzarzt verzog sich, um mal wieder ein Endoskop in irgendeine Körperöffnung zu schieben. Vermutlich beim Mammut in Bett 1, denn seit der intubiert war, konnte er sich ja nicht mehr beklagen. Ich beschloss, mich mit einzubringen, da ich gerade nichts Wichtiges zu tun hatte und genauso gut mal wieder den Ärzten ein wenig im Weg stehen konnte.
Es sollte dann aber doch keine Endoskopie gemacht, sondern ein neuer Venenkatheter gelegt werden. Man entschied sich, über die Leiste einzusteigen, und ich bekam die ehrenvolle Aufgabe, den Bauch aus dem Weg zu halten. Eine Stunde stand ich so da, die Arme voller Speck und mit gebeugten Rücken, bis man sich nach etlichen Fehlversuchen dazu durchrang, den Oberarzt hinzuzuziehen. Dieser war aber gerade unauffindbar, also wurde erstmal aufgeräumt. Soll heißen, der Assistenzarzt ließ alles stehen und liegen, um irgendwo anders ein Blutbad anzurichten, und ich durfte mich um die Kollateralschäden kümmern. "Wäre ich doch bloß im Iso-Zimmer geblieben", dachte ich, während ich den Müll aufsammelte und gleich noch den Patienten von seinem Stuhlgang befreite. Zurück im Stationszimmer lehnte ich mich kurz zur Erholung an den Drucker. Dort lag eine Kopie der neu bestellten Unterlagen;  man hatte tatsächlich nur 10 Pack Totenscheine bestellt.
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"Das Praktikum. Die Intensivstation ist nicht ohne. Vielleicht möchtest du darüber reden?", fragt meine Mutter wieder.
Ich überlege, ob sie verstehen würde, warum ich lache, wenn es heißt, dass ein Patient in den 3. Stock verlegt wird, obwohl das Krankenhaus nur 2 Stockwerke hat. Vielleicht würde sie das sogar, aber ich möchte nicht, dass sie mich so erlebt. Ich bin ein anständiger Mensch, und ich helfe gerne anderen. Ich bin niemand, der über Leid lacht.
"Ich habe heute erfahren, dass ein Patient, den ich seit vier Tagen jeden Morgen gründlich wasche, um den ich mich die ganze Zeit kümmere, die Krätze hat", platzt es aus mir heraus, ohne dass ich es wollte. Ich kann meine Mutter nicht ansehen und schrubbe weiter meine Arme.
Sie nimmt mich in den Arm, drückt mich fest. Sie hat keinen Ekel. Ekel wie ich ihn verspürt habe, als ich das von der Krätze bei meinem Patienten gehört habe. Ich dachte, ich wäre ein guter Mensch, aber ich kann beim Waschen kaum in mein Spiegelbild schauen.
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Neben dem Mammut lag jetzt ein Patient, bei dem sich ein paar Injektionen nicht so gut miteinander vertragen hatten. Es kam neben den ursprünglichen Atemproblemen nun auch zu neurologischen Ausfällen; er warf unwillkürlich die Arme hoch und seinen Kopf hin und her. Das machte das Rasieren sehr anspruchsvoll.
Eigentlich wollte ich es vermeiden, mehr über die Patienten zu erfahren. Dass nur am späten Nachmittag eine Stunde Besuchszeit war, kam mir sehr gelegen, denn so vermied ich in meinem alltäglichen Frühdienst zumeist den Kontakt mit etwaigen Angehörigen. Manche Geschichten sickerten dennoch zu mir durch.
So erfuhr ich später, dass Mammuts Nachbar ein Gelehrter war. Er hatte ehrenamtlich in einer Bibliothek gearbeitet und als Lektor für eine wissenschaftliche Zeitung. Seine Frau kam jeden Tag und brachte einen CD-Spieler mit Kopfhörern und Musik mit. Ursprünglich war er ins Krankenhaus wegen Hüftproblemen gekommen. Man setzte ihm eine Prothese ein, es kam zu Entzündungen und einer Thrombose, dann die Lungenembolie und jetzt lag er hier, zuckend wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ausgeliefert der Gnade einer Praktikantin, in der Hoffnung, sie möge bei Problemen rechtzeitig um Hilfe rufen. Er war seit beinahe drei Monaten im Krankenhaus, neben ihm kamen und gingen die Patienten, nur allmählich zeigte sich eine Besserung. Einige Medikamente waren abgesetzt worden, zwar offenbarte sich jetzt ab und an eine Angststörung, aber uns gelang es schließlich, ihn an die Bettkante zu mobilisieren. Als er so dasaß, die Brille auf der Nase in den Sonnenschein blickend, mit gekämmten Haaren und frisch rasiert, ging mir das Herz auf. Ich wollte unbedingt, dass die Ärzte ihn wieder hinbekamen, dass er wieder sprechen und nach Hause gehen, dass er wieder lesen konnte. Welch eine Ernüchterung, als er eine Stunde später wieder im Bett lag, im Angstschweiß gebadet, zitternd und keuchend. Ich nahm mir vor, den Geschichten in Zukunft wieder aus dem Weg zu gehen.
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Eines Tages saß ich nach dem Ende einer Schicht noch im Auto und konnte mich nicht überwinden, loszufahren. Eigentlich war an jenem Tag nichts allzu Außergewöhnliches geschehen, aber etwas lastete auf meiner Seele. War es das alltägliche Leid der Patienten? Der Gestank? Oder die Summe der lebensverändernden Eindrücke, die nur so auf mich einprasselten? Ich starrte ins Leere und fand irgendwie nicht so recht zu mir selbst. Da überkam es mich. Ich stürzte aus dem Auto und hechtete hinter das nächste Gebüsch. Dort übergab ich mich leidenschaftlich und blieb noch eine Weile hocken, um mir den Wind um die Nase wehen zu lassen und dem sorglosen Gras beim Wachsen zuzusehen. Eine Ladung würgte ich schließlich noch hoch, dann ging es mir wieder besser. Ich wischte meinen Mund sauber, stieg ins Auto und fuhr nach Hause.

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