Enttäuschte Erwartungen

Warum haben so viele junge Menschen bei der Landtagswahl 2019 in Thüringen AfD gewählt? Das fragten wir Professor Dr. André Brodocz von der Universität Erfurt. Er hat sich gerade in einer aktuellen Studie im Auftrag des Landesjugendrings Thüringen mit dem Thema "Demokratievorstellungen und Parteienverdrossenheit unter Jugendlichen in Thüringen“ beschäftigt.

Warum haben so viele junge Wähler_innen in Thüringen AfD gewählt?

„So viele“ ist relativ: Von den 18 bis 24-Jährigen haben 23% die AfD gewählt. Damit hat zwar keine Partei in dieser Altersgruppe mehr Stimmen bekommen, doch eine sehr große Mehrheit von 77% hat sich für eine andere Partei entschieden. Besondere Motive, durch die sich junge von älteren AfD-Wähler_innen unterscheiden, sehe ich nicht. Insgesamt sind es verschiedene Gründe, die zu Wahl der AfD motivieren: zunächst eine hohe Unzufriedenheit mit der Bundesregierung wie mit der Thüringer Landesregierung - hier profitiert die AfD davon, dass sie anders als die anderen Parteien weder in einem Bundesland noch im Bund bisher regieren musste; zweitens eine Unterstützung für die Positionen die AfD in den aktuell sehr stark diskutierten Themen rund um Migrations- und Klimapolitik - hier profitiert die AfD davon, dass diese beiden Debatten stark polarisiert sind und die AfD für jeweils einen Pol steht; drittens hat sich die AfD als Partei einer völkisch-nationalen Identität etabliert, von der sich einige Wähler_innen repräsentiert sehen, auch junge.

*Herr Prof. Brodocz können Sie aus Ihrer Untersuchung zum Thema „Demokratievorstellungen und Parteiverdrossenheit unter Jugendlichen in Thüringen“ ableiten, welche Faktoren das Wahlverhalten besonders beeinflussen?*
In unserer Studie haben wir den Einfluss verschiedener Demokratievorstellungen, genauer die mit ihnen verbundenen normativen Erwartungen und daraus hervorgehenden Enttäuschungen, auf das Parteienvertrauen der Jugendlichen in Thüringen untersucht. Danach steigt das Parteienvertrauen u.a., je mehr sich Jugendliche für Politik interessieren, sich in der der Lage sehen Politik zu beeinflussen, in einem Jugendverband mitarbeiten und in politischen Fragen mit ihren Eltern übereinstimmen. Das Wahlverhalten wurde bei uns nicht abgefragt. Dass ein hohes Parteienvertrauen Jugendliche jedoch dazu bewegt, wählen zu gehen, liegt nahe, da Parteien zur Wahl stehen. Allerdings ist das Parteienvertrauen der Jugendlichen ähnlich gering ausgeprägt wie in der gesamten Bevölkerung.

*Warum haben nicht mehr Jugendliche die Grünen gewählt?*
Der Erfolg der Grünen in den letzten Jahren wird vor allem von Wähler_innen getragen, die in Städten leben. Thüringen ist insgesamt aber eher ländlich geprägt. Die größte Stadt ist Erfurt, wo etwas mehr als 200.000 Menschen leben. Insofern haben die Grünen in Thüringen so etwas wie einen Standortnachteil. Dennoch haben unter den 18 bis 24-jährigen 13% die Grünen in Thüringen gewählt, insgesamt waren es dagegen nur etwas mehr als 5%. Ohne die Erstwähler_innen hätten die Grünen womöglich nicht die 5%-Hürde überwunden. Bei der Juniorwahl an Thüringens Schulen, also unter Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren, haben die Grünen sogar ca. 18% der Stimmen erreicht und sind damit dieser Altersgruppe die stärkste Partei.

*Ein Ergebnis der aktuellen Shell-Jugendstudie war, dass Jugendliche anfällig für Populismus sind, kann man dies in Thüringen exemplarisch feststellen?*
Ob man eine Anfälligkeit für Populismus messen kann, mag ich nicht beurteilen. Im öffentlichen Diskurs ist „Populismus“ inzwischen ein politischer Kampfbegriff. Wir haben statt dessen in unserer Studie zwischen liberalen und mit diesen konkurrierenden Vorstellungen der Demokratie unterschieden. Unsere Ergebnisse zeigen, dass unter den Jugendlichen normative Erwartungen verbreitet sind, die auf liberalen wie auf den mit ihnen konkurrierenden Demokratievorstellungen beruhen. Ein bemerkenswertes Ergebnis unserer Studie ist, dass das Vertrauen der Thüringer Jugendlichen in Parteien aber nur durch enttäuschte Erwartungen sinkt, die mit einer liberalen Demokratievorstellung verbunden sind.

*Was kann man tun, um Jugendliche für die pluralistischen Werte der Demokratie zu gewinnen?*
Wichtig ist, dass Jugendliche die Chance erhalten, eigene Erfahrungen mit der Demokratie zu machen. Nur so können sie auch durchaus vorhandene Widersprüche zwischen ihren Erwartungen reflektieren, eine eigene politische Urteilskraft ausbilden und dem entrinnen, was wir „Enttäuschungsfallen“ nennen.

*Vielen Dank für das Interview*

Autorin / Autor: Redaktion - Stand: 5. November 2019