Hallo Papa - es geht mir gut!

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Aurelia, 22 Jahre

Gähnend ließ er sich tiefer in das abgewetzte Kunstleder seines Bürosessels sinken. Er wünschte sich Kaffee. Richtigen, aromatischen Bohnenkaffee. Wie er schon seit Jahrzehnten nicht mehr verkauft wurde. Als er mit müden Augen versuchte, sich auf die Tabellen zu konzentrieren, die vor ihm auf dem Bildschirm umherschwirrten, klopfte es an seine Tür und eine Kollegin trat herein. Sie war auf dem Weg zur Morgenbesprechung. Nett, dass sie persönlich vorbeikam, um ihn abzuholen. Sie gingen den eindeutig zu hell ausgeleuchteten Flur der 36. Etage entlang, bis sie das große, mit hohen Bodenfenstern ausgestattete Konferenzzimmer betraten. Am Ende des Raumes befand sich ein großer Bildschirm, auf dem kurze Zeit später der Vorsitzende der Abteilungsleitung erschien und den Anwesenden in bester Orwell-Manier die Ziele der kommenden Woche erläuterte.
Die monotone Stimme machte eine Konzentration unmöglich, selbst wenn er tatsächlich hätte zuhören wollen. Unwillkürlich kratzte er sich am Handgelenk, wo sein Hautausschlag wieder zu jucken begann. Er hatte das Frühstück nicht gut vertragen, und sein Magen rumorte bereits unheilvoll. Sein Blick wanderte durch den Raum. Seine Kollegen sahen allesamt aus, als hätte man sie durch eine Wäschetrommel gedreht, bis sie ohne Farbe wieder herausgekommen sind. Blasse, aufgedunsene Gesichter, unförmige Körper, von Ausschlag und Rötungen gezeichnete Haut und müde, glasige Blicke. Jemand hatte Mundgeruch. Vielleicht er selbst.

Strahlendes Lächeln, strahlende Zähne und einen strahlenden Teint gab es nur noch auf den übergroßen Werbeplakaten. Meist für vitamin- und nährstoffgeladene Smoothies von Naturasan. Nur dass diese weder vitamin- noch nährstoffgeladen waren. Da sich in der Vergangenheit Dürreperioden, Gewitterstürme, kalte Sommer und warme Winter zuverlässig abgewechselt hatten und Landwirte beim Bekämpfen der Pflanzenschädlinge so viele chemische Mittel verwendeten, dass die Qualität des Grundwassers darunter litt, schrumpfte die der landwirtschaftlichen Nutzung zur Verfügung stehende Fläche mehr und mehr zusammen, während der Bedarf an Nahrungsmitteln bei rasant steigender Einwohnerzahl immer größer wurde. Man begann daher, Lebensmittel in künstlichen Gewächsanlagen anzubauen. Die Erzeugnisse sahen aus wie normale Lebensmittel, schmeckten jedoch weniger intensiv und mussten meist mit künstlichen Nährstoffen versetzt werden. Seit der Landwirtschaftsreform vor einigen Jahren war es wieder möglich, herkömmliche Lebensmittel im Supermarkt zu kaufen - diese waren zwar kleiner und befanden sich öfters in fortgeschrittenem Stadium der Verwesung, kosteten dafür aber mehr als ihre künstlich herangezüchteten Artgenossen. Und das ist selbst Naturasan zu teuer, von daher konnte man inzwischen alle Arten von Smoothies vergessen. Oder von Säften. Oder von Lebensmitteln, die den Anschein erweckten, zu mehr als 20 % aus natürlichen Zutaten zu bestehen. Gut, dass ihm das künstliche Zeug sowieso besser schmeckte.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Kollegen um ihn herum anfingen, sich in Bewegung zu setzen. Der Bildschirm war schwarz, die Morgenbesprechung beendet. Er holte sich in der Teeküche ein Tasse der schwarzen Brühe, die als Kaffeeähnliche Substanz angeboten wurde und verbrachte dann so lange Zeit auf der Bürotoilette, dass er den Anstand hatte, beim Verlassen der Kabine eine schuldbewusste Miene aufzusetzen.

Das Gehäuse und der Fahrstuhlschacht des Bürogebäudes bestanden aus Glas. Anfangs ist er häufig bis hoch in die 76. Etage gefahren, um einen nahezu unverstellten Blick über Berlin zu haben. Nördlich der Stadt erstreckten sich die zahlreichen kleinen Seen auf dem sumpfig aufgeweichten Boden. Durch das Steigen des Meeresspiegels mussten große Teile Norddeutschlands evakuiert werden. Der Bau eines riesigen Dammes nördlich von Berlin hatte vor einem Jahren begonnen. Er sollte verhindern, dass die Stadt überschwemmt wurde und dass sich der Boden der Millionenstadt in ein Sumpfgebiet verwandelte. Wer hätte gedacht, einmal vom Fernsehturm aus auf die Ostsee zu blicken.

Der Fahrstuhl in seinem Wohngebäude war schon wieder kaputt. Nachdem er keuchend in der 15. Etage angekommen war, kramte er in seinem Aktenkoffer nach dem Wohnungsschlüssel. Wenn so regelmäßig der Fahrstuhl ausfiel, konnte er nicht erwarten, dass der Fingerabdrucksensor an der Türklinke funktionierte.
Überrascht bemerkte er den Brief, der vor seiner Wohnungstür lag. Er bekam nie Post, von gelegentlichen Paketbestellungen abgesehen. Alles andere wurde elektronisch erledigt. Der Umschlag hatte noch einen Poststempel und sogar Briefmarken. Das hieß, dass er in einem Postamt gelandet sein musste, also aus einem Land kam, in dem der Postverkehr noch nicht komplett von Drohnen übernommen wurde.

Immerhin funktionierte der Lichtschalter, so dass er nicht auf die letzten von der dicken Luft schummrigen Lichtstrahlen, die durch sein kleines Fenster fielen, angewiesen war. Er öffnete den Briefumschlag. Darin befanden sich Fotos. Echte Fotos aus glänzendem Fotopapier. Das erste Bild zeigte eine verschleierte junge Frau, auf eine Schaufel gestützt. Ihr Kopftuch war so weit zurückgezogen, dass man ihre braunen gelockten Haare und ihr Gesicht erkennen konnte. Sie schnitt eine Grimasse. Die Gummistiefel waren schlammbeschmiert, hinter ihr erstreckte sich Wüstensand.
Seine Hände zitterten. Er hatte seit Monaten nichts mehr von seiner Tochter gehört. Das nächste Bild zeigte sie vor einem Meer aus Photovoltaikanlagen. Zeigte sie vor überschwemmten Holzbaracken. In der Steppe. Mit kurzen Klamotten am Lagerfeuer, eine Gruppe Menschen um sie herum. Mit kurz geschorenen Haaren, einer Armbinde und einer Schramme am Auge. Mit dem Arm voll gelb-grüner Früchte, die er seit dem Importstopp vor 40 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Inmitten von frisch angepflanzten Setzlingen. Und auf jedem einzelnen Bild ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht.

Er faltete ihren Brief auseinander. Er fühlte sich alt.

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