Für Ella

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von E.K. Heiress, 19 Jahre

Paul saß wie gefesselt auf einem Stuhl. Rechts lag seine einjährige Tochter Ella. Links hielt er die Hand seiner sterbenden Frau. Paul fühlte sich mehr tot als lebendig. Zerrissen zwischen zwei Welten. Mit viel Mühe durchbrach er seine Fesseln und kniete sich auf den kalten Boden. Ganz dicht an das Sterbebett seiner Frau. Er legte ihre Hand gemeinsam mit seiner eigenen auf Ellas weiche Bäckchen. Dann hörte er Ellas Mutter flüstern: „Du musst Teil der Lösung sein, sonst bist du Teil des Problems.“ Ihre smaragdgrünen Augen durchdrangen Pauls Tränenschleier, als würden sich Sonnenstrahlen ihren Weg durch ein Meer aus dunklen Wolken bahnen. Ihm wurde plötzlich ganz warm. „Wir brauchen ein Morgengrün, kein Morgengrauen. Für Ella.“, fügte sie hinzu und sah ihr Kind liebevoll an. Dann schloss sie die Augen. Paul verschwand in einem schwarzen Nichts. Zerrissen zwischen zwei Welten. 

Ella wuchs zu einem kleinen, lebensfrohen Wirbelwind heran. Paul dagegen glich einem Gänseblümchen, das im Schatten wuchs. Aber ein „halber Meter“ namens Ella holte ihn immer wieder auf die Sonnenseite des Lebens zurück. In der Natur blühte Ella auf. Dann tanzten ihre kastanienbraunen Locken um ihre rosa Bäckchen herum. Im Sommer ging Paul oft mit ihr in den Wald. Manchmal schloss sie die Augen und hielt die Hand ihres Papas. Dann spürte Ella das samtig weiche Moos unter ihren Zehenspitzen und gluckste. Das hätte ihrem kleinen Kater Nepomuk sicher auch gefallen. Über ihr rauschte ein Meer aus Blättern. Eine Melodie, die sich tief in Ellas zartes Kinderherz schloss.

Heute war ein ganz besonderer Tag. Paul stand auf einer improvisierten Bühne, krempelte seine Ärmel hoch und checkte die Technik. Er sah irgendwie lässig aus. Das Gänseblümchen hatte wohl in letzter Zeit oft Sonne abbekommen. Paul schaute zu Ella. Seine fünfjährige Maus saß in der ersten Reihe und ließ ihre Beinchen hin und her baumeln. Neben den vielen Jugendlichen sah sie aus wie ein Zwerg unter Riesen. Paul schmunzelte. Nach dem Tod seiner Frau hatte er sich zurück ins Leben kämpfen müssen. Seine Tochter hatte ihm dabei geholfen. An Ella hatte Paul gesehen, wie man Kinder spielerisch von der Natur begeistern konnte. Dies praktizierte er nun auch beruflich. In seinem Konzept steckte viel Herzblut. Das Ziel: Mehr Umweltbildung in der Bildung. Mit Kindergärten und Grundschulen plante er vor allem Erlebniswanderungen. Die Kinder entdeckten den Wald, indem sie Blätter sammelten, die Rinde von Bäumen untersuchten oder nach Tierspuren Ausschau hielten. Seit Kurzem bot Paul auch Vorträge und Projekttage an höheren Schulen an. Nun verfolgten ihn in der Aula circa 150 Augenpaare. Paul scannte die Gesichter der fünfzehn bis sechzehnjährigen Schülerinnen und Schüler. Auf ihnen spiegelte sich Langweile und Müdigkeit wider. Aber da war auch ein Funkeln. Ein Funkeln der Wissbegierde. Also legte er los.

„Würdest du 2 Tonnen Gold und 22 Tonnen Silber einfach so herumliegen lassen?“, begann Paul und sah ein Mädchen in der ersten Reihe fragend an. „Natürlich nicht.“, antwortete sie entrüstet. „Tja, dann passt mal auf.“ Paul zog sein Smartphone aus der Hosentasche und hielt es hoch. „Es geht um diesen kleinen Alltagshelfer hier. In jedem eurer schlauen Telefone stecken circa 60 Rohstoffe, darunter 30 Metalle, die vor allem in Entwicklungsländern abgebaut werden. Resultat: Waldrodung, Wasserverschmutzung durch giftige Chemikalien, der Ausstoß von Treibhausgasen und vieles mehr. Paul erhob seine Stimme. „Aber das ist es doch Wert oder?“, fragend sah er in die Menge. Es war ruhig geworden. „Natürlich sind diese intelligenten Helferchen eine Errungenschaft unserer modernen Zivilisation. Aber gerade deshalb sollten wir sie bewusster benutzen: Nur dann, wenn wir sie wirklich brauchen.“ „Und was ist jetzt mit den 2 Tonnen Gold?“, hakte das Mädchen aus der ersten Reihe nach. Paul nickte. „Dabei geht es um die Entsorgung. Die meisten deutschen Althandys – wir reden von einigen Millionen – verstauben in Schubladen. In ihnen stecken unter anderem die besagten Tonnen von Gold und Silber. Sie sind für das Recycling verloren. Der erneute Abbau dieser zahlreichen Rohstoffe ist mehr als unnötig. Wir sägen an dem Ast, auf dem wir selbst sitzen.“ Paul machte eine Pause. Dies war nur das Aufwärmprogramm, die Theorie. Der wirklich essenzielle Teil würde im Rahmen der Projekttage erfolgen. An diesen würden die Schülerinnen und Schüler leicht umsetzbare Methoden zum aktiven Umweltschutz entwickeln: kleine Praxistipps für den Alltag.

Aus dem Vortrag wurde nach und nach eine lebhafte Diskussion über Müllproduktion, Strom-, Wasser- und Papierverbrauch. „Wir leben auf Kosten anderer.“, erklärte Paul schlussendlich. „In Südamerika wird für Deutschland auf einer Fläche von über drei Millionen Fußballfeldern Soja angebaut.“ Da erklang ein Zwischenruf aus der linken Ecke: „Haha, verdammte Veganer.“ Lautes Lachen. „Dann lieber Fleisch essen?“, fragte Paul mit hochgezogener Augenbraue. „Jap!“, kam es mehrstimmig zurück. „Dann spitzt mal eure Lauscher“, entgegnete Paul. „Das besagte Soja konsumieren hauptsächlich Schweine, Rinder und Geflügeltiere. Es wird faktisch also in der Massentierhaltung verwendet, um dann auf unseren Tellern zu landen.“ In der linken Ecke wurde es still. „Leute, wacht auf!“ Paul blickte in die vielen jungen Gesichter. „Generationen vor euch waren ökologische „troublemaker“, sonst wären wir nicht dort, wo wir heute sind. Ihr könnt es besser machen. Ihr könnt Verantwortung übernehmen und die Welt verbessern. Ihr seid es, die Teil einer grünen Lösung werden müssen, sonst bleibt ihr Teil eines grauen Problems.“

Das Klatschen hörte Paul nicht. Ella sprang von ihrem Stuhl auf, rannte zu ihm und Paul hob sie hoch. Er schaute in die smaragdgrünen Augen seiner Tochter. „Egal an was du glaubst“, stellte Paul im Stillen fest, „es gibt ein Leben nach dem Tod – in jedem Fall für die Hinterbliebenen. Und deshalb lohnt es sich, für ein Morgengrün zu kämpfen.“

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Autorin / Autor: E.K. Heiress, 19 Jahre