Eine kleine Geschichte der Erde

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Amely Wernitz, 15 Jahre

Manche sagten, ihre Geburt sei laut gewesen. Die Menschen, Jahrmilliarden später behaupteten sogar, es hätte einen Knall gegeben, einen Paukenschlag, der die Ankunft ihrer Heimat verkündete. In Wahrheit aber war das Zusammenstoßen der beiden Asteroiden ganz still gewesen – so still sogar, dass die meisten Sterne am Himmelzelt es gar nicht bemerkten.
Erde war anders als ihre Brüder und Schwestern. Direkt in der Mitte wurde sie mit Wärme und Geborgenheit überschüttet, sie war nicht zu groß und nicht zu klein, geradezu perfekt, aber einsam.
„Was willst du dagegen tun?“, fragte Venus, „Es ist unsere Bestimmung hier zu sein. Du hast doch uns, du bist nicht einsam.“
Erde aber hatte eine andere Idee. Eine ganze eigene, die niemand je vor ihr gedacht hatte.
„Leben.“, sagte Erde begeistert, „Ich will Leben erschaffen.“
Venus und Mars protestierten heftig, als Erde ihnen das Konzept erklärte, hielten sie für verrückt. Neptun und Uranus versuchten es ruhiger, verstanden, was sie meinte, und betrachteten Leben doch als gefährlich. Merkur war zu jung, um zu verstehen und Saturn kümmerte sich schon seit Jahrhunderten nur um seine Vision von Ringen. Nur Pluto, der winzige gutherzige Pluto, machte Erde Mut: „Sie haben es nicht probiert, sie können nicht wissen, was daraus wird. Leben wird sicher gut.“
Erde lächelte ihn an.
Und dann begann es. Sie strengte sich an, ihre brodelnde Oberfläche abzukühlen, bis Boden zusammenwuchs und sich Wasser in ihren Tiefen sammelte. Erde drehte sich vor Freude und die Wärme der Sonne ließ das Grün sprießen.
„Wie fühlt es sich an?“, fragte Mars eines Tages. Immer sehnsüchtiger sah er die dichten Wälder aus der Ferne an und Erde lachte: „Es ist das schönste Gefühl der Welt!“
Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende und Jahrmillionen vergingen.
Erde fühlte, wie Einzeller in den Tiefen des Meeres begannen miteinander zu kommunizieren, wie sie begannen zu wachsen und wie sich endlich eine ihrer Schöpfungen an Land traute. Sie sah dem kleinen Wesen fasziniert zu, wie es sich wand und fortbewegte, in den Wäldern verschwand.
Das war Leben.
Sie war nicht mehr allein.
Leben begann sich zu vermehren. Plötzlich gab es die verschiedensten Arten von ihnen, die Bäume ließen Knospen fallen und es wuchsen neue, sie alle atmeten, sie alle lebten auf ihr.
„Sind es nicht langsam genug?“, piepste Merkur nach mehreren Sonnenwendungen, doch Erde antwortete nicht. Sie war immer beschäftigt, immer dabei, etwas Neues zu kreieren, Leben voranzubringen.
Die Tiere wurden größer, sie entwickelten sich weiter.
Erde war so besessen von ihrer neusten Entdeckung – dem Einfrieren von Wasser – dass sie den Meteoriten nicht kommen sah. Er traf einen ihrer Kontinente.
Benommen von dem Schlag blinzelte sie, sah zum ersten Mal seit langem wieder das ewige Schwarz, in dem sie geboren worden war.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Pluto von weit weg und Erde wollte antworten, aber Venus kam ihr zuvor: „Ich hab’s doch gesagt, es ist gefährlich, dieses Leben! Du musst damit aufhören, es wird dich umbringen.“
Leben! Wo war es? Sie fand es noch im Meer, aber die Wälder durchsuchte sie vergeblich. Alles war weg, alles fort, alles tot. Das Feuer war wieder da, die Sandwüste. Der Kontinent war zerbrochen.
Erde weinte bitterlich und weder Mars noch Merkur vermochten sie zu trösten.
Durch die Trauer aber kam ihr eine weitaus bessere Idee. Die größte, wohlmöglich, die sie je hatte.
„Der Mensch.“, verkündete sie ihren Geschwistern, „Er wird alles verändern.“
„Was wirst du tun, wenn wieder ein Meteorit kommt?“
„Ich habe meine Atmosphäre gestärkt. Und wenn doch, dann wird der Mensch wissen, wie er sich verteidigen kann.“
Mit der größten Sorgfalt begann Erde, kleine Mengen Wasser abzuspalten und durch die Kontinente zu lenken. Sie verteilte die Samen der Blumen auf manchen Teilen und die der Bäume auf anderen. Sie sorgte dafür, dass es angenehm warme und etwas kältere Orte gab, sodass der Mensch sich seinen liebsten aussuchen konnte.
Den ersten begrüßte sie ganz persönlich, ließ ihn ihr Licht erleben und nach ihren Jahreszeiten durch die Lande wandern. Sie nährte ihn, pflegte ihn, tröstete ihn mit ihrer Präsenz und den warmen Worten, die der Wind übermittelte.
Sie sah zu, wie seine Art wuchs und gedieh. Sie liebte sie alle gleich, ihre Schöpfungen, aber sie wusste, dass der Mensch wohl die Vielversprechendste von ihnen war.
Damals wusste sie noch nicht, dass es eines Tages ausgerechnet der Mensch sein würde, der sich gegen seine Mutter wenden würde.
Als er begann, ihre Ordnung zu zerstören, ihre Flüsse umzuleiten und die Blumen aus den Wiesen zu reißen, da tat sie es mit einem Lächeln ab. Bald würde er realisieren, dass er nur ein weiterer Teil des bunten Planes war, den sie ersonnen hatte.
„Du musst aufpassen, es geht dir schlechter.“, warnte Mars eines Tages, denn er hatte zugesehen, wie grauer Dampf begann von den Siedlungen der Menschen aufzusteigen und Erdes Atem flacher wurde.
Sie hustete und sah auf die Menschen herab. So schnell waren sie gewachsen, so schnell hatten sie Dinge erfunden, die Erde sich noch gar nicht hatte erträumen können.
„Bald, bald werden sie damit aufhören.“
Doch das taten die Menschen nicht. Schon vor langer Zeit hatten sie verlernt, auf die Stimme ihrer Mutter zu hören. Sie erstickten Erde mit ihren Maschinen, sie zerstörten alles, was sie über Milliarden von Jahren erarbeitet hatte.
Was immer Mars und Venus riefen, wie laut Merkur schrie und Pluto flehte, Erde konnte sie nicht mehr hören. Sie war stumm und taub, blind von den Gasen und gefesselt von der Brutalität ihrer Kinder.
Ihre Geschwister sahen machtlos zu, wie ihre Schwester, die erfindungsreichste unter ihnen, die mit den waghalsigen Träumen und dem festen Glauben an das Gute im Universum, langsam dahinsiechte.
Erde realisierte es erst, als es zu spät war.
Leben, das ist gleichzeitig auch Sterben.

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Autorin / Autor: Amely Wernitz, 15 Jahre