Tier an Mensch

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Paula Staffa, 16 Jahre

Menschen.
Bitte entschuldigen Sie diese informelle Anrede, aber wir bringen es einfach nicht über uns, Sie mit Grüßen wie „Sehr geehrte Menschen“ oder „Guten Tag, Menschen“ anzusprechen. Um die Wahrheit zu sagen, wir ehren Sie nicht und wir wünschen Ihnen einen schrecklichen Tag. Doch kommen wir zum eigentlichen Thema.
Wir sind uns dessen bewusst, dass die Evolution Sie mit einem überdurchschnittlich großen Gehirn ausgestattet hat, und wir können nicht leugnen, dass wir Sie an unseren schwachen Tagen darum beneiden. Wir gehen davon aus, dass es Ihnen, ausgehend von diesem Gehirn, eines Tages gelingen wird, unsere Sprachen zu entschlüsseln. Deshalb haben wir beschlossen, unsere Fragen, Anregungen, Wünsche und Vorwürfe an Sie zu sammeln, in Form zu bringen und anschließend solange darzubieten, bis Sie sie irgendwann verstehen. Die Wölfe heulen sie in die Nacht, die Wale singen sie in jeder freien Minute, die Hirsche röhren sie bis zur Heiserkeit und die Hasen trommeln sie in den Boden. Die Vögel zwitschern und krächzen sie, die Fische schicken codierte Luftblasen an die Wasseroberfläche und die Ameisen duften sie ohne Unterlass. Die Chamäleons schreiben Farbbotschaften in die Baumwipfel, die Katzen schnurren oder fauchen sie – je nachdem, wie gut oder schlecht sie auf Sie zu sprechen sind – und sie sind auch das Erste, das wir an unseren Nachwuchs weitergeben. All diesen Aufwand betreiben wir, damit Sie, egal welches Tier auf der Welt Sie zuerst endgültig verstehen werden, gleich zu Anfang wissen, dass wir die Hoffnung noch nicht aufgegeben haben. Egal, wie grausam und rücksichtslos Sie sich verhalten haben, wir glauben daran, dass Sie einen Neuanfang schaffen können, wenn Sie sich unsere Botschaft zu Herzen nehmen und Ihr Verhalten ändern. Also passen Sie gut auf, denn hier kommt Ihre Chance, alles wieder gut zu machen. Enttäuschen Sie uns nicht!
Ohne Liebe, aber mit viel Hoffnung
die Tiere.

1. Warum nennen Sie sich „homo sapiens sapiens“?
Wir halten diesen Namen – oder nennen wir es Titel – in keinster Weise für geeignet, es sei denn, es ist Ihr Ziel, alles und jeden bei der ersten Begegnung darauf hinzuweisen, wie selbstverliebt und eingebildet Sie sind. Um einen Neubeginn zu bewältigen, sollten Sie also eine Änderung in Erwägung ziehen. Ein Vorschlag unsererseits: homo paenitentia commotus (reumütiger Mensch).

2. Warum halten Sie sich für übernatürlich?
Man findet ihn in so ziemlich jedem Ihrer Steckbriefe über Tiere: den Punkt „Natürliche Feinde“. Dann folgt eine mehr oder weniger vollständige Liste von Tieren, die Ihrer Meinung nach für das betreffende Tier zum Problem werden können. So weit, so komisch. Allerdings fehlen Sie selbst IMMER auf diesen Listen. Wofür halten Sie sich eigentlich? Für uns kräftemäßig überlegener ja eher nicht, wenn man Sie so betrachtet. Wenn Sie sich tatsächlich bessern wollen, dann sollten Sie endlich von Ihrem selbst gebauten Thron herabsteigen und vernünftig werden!

3. Warum sehen Sie sich selbst nicht als Tiere?
Man sieht es auf jeder dritten Werbetafel: „Purer Genuss für Mensch und Tier“. Wissenschaftlich betrachtet gehören Sie allerdings den Wirbeltieren im Allgemeinen und den Säugetieren im Besonderen an, oder kurz: Sie sind Tiere! Sollten Sie jedoch weiterhin das Bedürfnis haben, Ihre Reklamen mit einem kollektiven Singular zu schmücken, der Sie von den übrigen Tieren abgrenzt, dann wählen Sie doch in Zukunft Aussagen wie „Dem unterdrückten Tier lang ersehnter Genuss, dem einsichtigen Mensch Linderung seiner psychischen Qualen durch Arbeit auf einer Regenwald-Rettungs-Plantage“.

4. Warum benennen Sie Ihre Autos nach Tieren?
Tiere sind edle Geschöpfe, evolutionäre Wunderwerke, die sich auf eigenen Wunsch bewegen können und diese Welt zu einem besseren Ort machen. Autos sind hässliche, lärmende Klötze, die seit nicht einmal 200 Jahren existieren, ohne einen Menschen hinter dem Steuer gar nichts tun und bei jeder Bewegung die Umwelt mit ihren Abgasen verpesten. Und diese Bestien bezeichnen Sie dann als Mustangs, Käfer, Enten oder Jaguare? Wir würden die Dinger ja Menschen nennen, aber das würde nur zu Verwechslungen führen, wenn wir uns über den Abschaum der Welt unterhalten wollen...

5. Warum lassen Sie Ihre Jungen mit Plüsch-Versionen von uns Tieren spielen?
Es ist einfach nur abartig, wenn Sie Ihre Kinder mit bunt gestreiften Watteschweinen kuscheln lassen und sie kurz darauf mit gekochten, gehächselten, breiigen Schweinen füttern! Wo wir schon dabei sind, wie wäre es eigentlich mal mit einer Umstellung Ihrer Ernährung? Nur, weil Sie Allesfresser sind, heißt das ja schließlich nicht, dass Sie alles fressen müssen!

6. Warum glauben Sie, dass Sie die einzigen Bewohner dieses Planeten sind?
Wir sitzen doch alle in einem Boot: Es gibt nur eine Erde, und Sie benehmen sich, als hätten Sie mindestens fünf! Sie vermüllen die Welt mit Plastik und Atommüll, Sie saugen sämtliche Rohstoffe auf und hinterlassen Schneisen der Verwüstung (oder sind die Schneisen vielleicht die unberührten Teile?), Sie zerstören unsere Lebensräume durch den Bau von Staudämmen oder die Abholzung des Regenwaldes (was würden Sie eigentlich tun, wenn wir uns entschließen würden, Ihre Metropolen und Wolkenkratzer ein für alle Mal platt zu machen?). Was wollen Sie denn noch? Auf den Mars auswandern und uns hier zurücklassen??? Von uns aus, wenigstens wären wir Sie dann los...

7. Warum haben Sie das Recht, uns unserer Freiheit zu berauben?
Wir halten uns ja schließlich auch keine Menschen in Käfigen oder führen Sie a–

Anmerkung der mit dem Fall betrauten Wissenschaftler: Hier endet die aufgezeichnete Botschaft leider, und zwar mit einem lang gezogenen, forensisch uninteressanten Klagelaut sowie einem Schuss. Wir können davon ausgehen, dass das übermittelnde Tier im entscheidenden Moment von Großwildjägern erlegt wurde. Es wird mit Sicherheit einen besonderen Platz in der Trophäensammlung dieses Jägers erhalten, als das erste Tier, das sich der Mensch vollständig zu eigen machte.

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Autorin / Autor: Paula Staffa, 16 Jahre