Der Held in uns

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Sarah Hollstein, 24 Jahre

1 Romy holt tief Luft, sammelt ihre letzte Energie zusammen und taucht dann langsam in die blaue Welt unter sich hinab. Mit schnellen, geübten Bewegungen gleitet sie durch das salzige Wasser, angetrieben durch ihre Schwimmflossen, das Ziel fest vor Augen. Durch ihre Taucherbrille sieht sie alles ganz klar: Die Korallen, die längst nicht mehr so bunt sind wie noch vor gut zehn Jahren, sondern bleich und bröckelig. Die wenigen Fische, die viel zu nah an sie heranschwimmen, weil sie Menschen inzwischen mit Brot oder anderem Futter verbinden, das gar nicht gut für sie ist. Doch Romys Aufmerksamkeit liegt auf dem, was dort gute vier Meter unter ihr auf dem Meeresboden erbittert kämpft. Die Schildkröte windet sich, strampelt verzweifelt gegen das gelbe, engmaschige Fischernetz an, in dem sie sich – scheinbar rettungslos – verfangen hat. Sie ist noch nicht ausgewachsen, ein Jungtier, und vielleicht ist das ihre erste Begegnung mit diesen teuflischen Dingern. Dass die Rettung naht, versteht das Tier zunächst nicht. Als Romy es beinahe erreicht hat, versucht es, davon zu schwimmen. Das Netz lässt es nicht zu. Und die Schildkröte hat keine Kraft mehr. Nach einigen wenigen, panischen Schwimmzügen gibt sie auf. Blickt zu Romy, als will sie sagen: „Gut, dann beende es. Ich kann nicht mehr.“ Doch Romy lässt sich langsam die letzten Zentimeter herabsinken. Ihre Knie berühren den Sand. Behutsam zieht sie ihr Tauchermesser, packt beherzt das Netz dort, wo es eines der Vorderbeine der Schildkröte umschlungen hat und fängt an zu schneiden. Glücklicherweise zappelt die Schildkröte nun kaum noch. Vielleicht ist sie starr vor Angst, vielleicht kann sie nicht mehr zappeln – oder vielleicht spürt sie doch irgendwie, dass Romy ihr helfen will. Romy hofft das immer wieder: Dass die Tiere im Nachhinein mehr Dankbarkeit empfinden als Angst. So schlimm, wie es auf den ersten Blick ausgesehen hatte, ist es dann Gott sei Dank doch nicht. Romy sind schon viel fürchterlichere Fälle untergekommen. Das Netz hat der Schildkröte noch nicht in die Haut geschnitten. Schneller als gedacht trennt Romy die letzte Faser des Netzes durch, rafft es an sich und behält die Schildkröte im Blick, während sie langsam zur Oberfläche empor steigt. Das befreite Tier treibt noch für einen Moment benommen im Wasser – dann scheint es zu begreifen, dass die Gefahr vorüber ist. Zögerlich macht es ein paar Bewgungen mit seinen Beinen – dann holt es plötzlich aus und schießt so schnell davon, dass Romy es schon nicht mehr sieht, als sie die Oberfläche erreicht hat.

2 Hedwig hat schon in sehr jungen Jahren Probleme mit dem Rücken gehabt. Der Stuhl im Büro, in dem sie so lang gearbeitet hatte, war in all der Zeit nicht einmal ausgestauscht worden. Mit krummem Nacken hatte sie Tag um Tag dagehockt, erst vor der Schreibmaschine, später vor dem PC. Und nun, da sie in Rente gegangen ist, hat sie den Salat. Ihr Rücken schmerzt fast immer, ob sie sitzt, steht oder liegt. Oder wenn sie, wie jetzt, ihren täglichen Rundgang durch den Stadtpark macht. Trotzdem bückt sie sich auch dieses Mal, greift mit ihrer zittrigen Hand ins nasse Gras und hebt das schmutzige Plastiktrinkpäckchen auf, das vielleicht irgendein Kind auf dem Schulweg achtlos dorthin geworfen hat. Sie lässt es in ihren Stoffbeutel fallen und geht weiter, während sie die klare, frische Morgenluft tief inhaliert. Hedwig kann nicht mehr sagen, wie viele Jahre sie schon jeden Morgen im Park spazieren geht. Sie weiß allerdings noch sehr genau, wann sie damit angefangen hat, anderer Leute Müll aufzuheben und ihn ordnungsgemäß in den Mülleimer zu werfen. Da war dieser Bericht gewesen, im Fernsehen, der davon handelte, wie wenig Zeit der Welt nur noch blieb, wenn die Menschen nicht radikal umdachten. Berge von Platstik waren gezeigt worden und verzweifelte Eisbären, die auf einer winzigen Eisscholle über das Meer trieben, dem Tode geweiht. Kahle, gerodete Erdflächen, wo einst ein prächtiger, gesunder Regenwald gewesen war. Hedwig hatte hinaus gesehen in ihren Garten, der wuchs und gedieh und den sie so von Herzen liebte. Wenig später war sie aufgestanden, hatte sich einen Stoffbeutel gegriffen und begonnen, alles aufzusammeln, was nicht in die Natur gehörte. Natürlich kann sie keine allzu schweren Dinge tragen. Es gibt ja sogar Leute, die ihre ausgedienten Waschmaschinen in der Natur entsorgen. Doch solange ihr die Last noch nicht zu groß wird, sammelt sie weiter. Im Park ist sie inzwischen bekannt. Viele belächeln sie. Doch manchmal, da trifft Hedwig auf Menschen, die sich ihr stillschweigend anschließen. Und dann lächelt sie.

3  Jonas ist elf Jahre alt und der Schlauste in seiner Klasse. Seine Eltern sagen immer, dass er eines Tages sicher mal etwas Außergewöhnliches leisten wird. Jonas‘ Klasse hat gerade Projektwoche. Das Thema ist Umweltschutz. Die Lehrerin möchte, dass die Kinder sich bis zum Ende der Woche überlegen, wie sie einen Beitrag dazu leisten können, dass es der Erde in Zukunft wieder besser geht. Jonas überlegt Tag und Nacht. Und dann hat er plötzlich eine Idee. Er sitzt so lange an der Skizze für diese Idee, dass er am Tag der Präsentation fast verschläft. Doch sein Papa fährt ihn zur Schule und Jonas kann seine Idee der Klasse vortragen. Als er fertig ist, ist es totenstill. Dann fragt die Lehrerin, ob er sich das wirklich alles allein ausgedacht hat. Jonas nickt eifrig. Die Lehrerin ist platt. Sie lobt Jonas ganz besonders. Am Nachmittg ruft sie Jonas‘ Eltern an. Sie berichtet von der tollen Idee ihres Sohnes und empfiehlt ihnen, Jonas noch mehr zu fördern. Und die Eltern hören auf sie. Viele Jahre später hat Jonas wieder eine Präsentation. Die Herren Investoren in ihren feinen Anzügen lauschen ihm so gebannt wie damals seine Klassenkameraden. Als Jonas fertig ist, ist es totenstill. Dann steht einer der Herren auf, schüttelt ihm die Hand und sagt: „Herzlichen Glückwunsch. Sie haben da etwas ganz Außergewöhnliches für die Umwelt geleistet.“

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