Als alles da war, bloß die Zeit nicht

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Lisa Salot, 19 Jahre

Sie sitzt auf Knien auf dem kahlen Boden, kleine Steinchen drücken sich in ihre Schienbeine. Schmerzen, endlich ein anderes Gefühl als Hunger, Durst oder Hitze, die sie ihr Leben lang schon begleiten. Langsam streicht sie mit einem Finger über die ausgetrocknete Erde, fährt die Risse nach. Früher wuchs hier, nach den Erzählungen ihrer Mutter, noch Gras. Oft erzählt sie von den Blumenwiesen, bunte Blumen in den unterschiedlichsten Farben und Größen, und davon tausende. Und über den Blumen flogen Schmetterlinge, Hummeln oder Bienen. Für Kay sind das die schönsten Geschichten, die Geschichten von früher, von dem Geruch des Morgentaus, von Gänseblümchenketten und dem Schwimmen in Seen oder Flüssen. Nachts träumt sie davon, durch grüne Wälder zu streichen, Früchte vom Baum zu pflücken oder Regenbögen zu sehen. Aber ihre Welt ist nicht mehr so bunt, wie sie es ein mal gewesen sein sollte. Es gibt keine Farbpalette mehr, nur noch unterschiedliches Braun und Grau. Selbst ihre Haut ist grau geworden, fahl, und ihre früher so schönen schwarz glänzenden Haare sind abgestumpft, strähnig, trocken.
Trockenheit – das zentrale Thema ihres Lebens. Die nicht enden wollende Hitze hat ihr Leben zerstört. Es begann mit 40 Grad im Schatten und endete mit Dürren, Waldbränden, Wassermangel. Ganze Städte wurden von den Flammen eingenommen und tausende Menschen starben in dem Feuer.
Kay seufzt leise, die Hitze tötet sie schon seit 16 Jahren, da hatten es die Opfer der Waldbrände schneller und schmerzloser.

Mit den Dürren und dem Wassermangel kam auch die Lebensmittelknappheit und der täglich andauernde Durst. Supermärkte wurden gestürmt und ausgeräumt, man kämpfte um jeden Krümel Brot. Frisches Essen, Obst, Gemüse, gibt es schon lange nicht mehr, die Bauern konnten ihre Felder nicht mehr bebauen und so wird nun aus Dosen gegessen. Jede Dose schmeckt gleich, nach nichts, aber dennoch füllt es für einige Zeit den Magen und lässt einen diesen dauernden Schmerz im Bauch vergessen. Trotzdem haben Kay und ihre Familie nicht genug zu essen. Man dachte immer, die wohlhabenden Haushalte haben nichts zu befürchten, sind sicher. Aber Geld bringt einem auch nichts, wenn es an Wert verliert, wenn nichts mehr da ist, was man sich davon kaufen könnte. Kays Mutter erzählt gerne von dem großen Garten, den sie damals besaßen, einen Springbrunnen, aus dem ununterbrochen Wasser kam, ohne Sinn, nur so stand er da. Oder von stundenlangem Baden in der Badewanne. Der früher so bunte und exotische Garten ist nun ebenfalls braun und rissig und der Springbrunnen ist schon seit Ewigkeiten nur noch eine trockene Schale, die langsam beginnt, spröde zu werden.

Kay steht langsam auf und betrachtet die Abdrücke, die die kleinen Kiesel auf ihren Beinen hinterlassen haben. Viel zu lange saß sie schon hier und hat sich in ihren Gedanken verloren. Sie muss das Beste aus ihrem Leben machen, Selbstmitleid bringt nicht viel. Man hält sich ja doch an jeden vorhandenen Grashalm den man finden kann, bildlich gesehen natürlich, denn Grashalme gibt es in ihrer Welt schon lange nicht mehr. Dennoch wünschte sie sich manchmal, die Menschen vor ihr, die Menschen, die noch Springbrunnen besaßen und auf Blumenwiesen picknickten, hätten besser aufgepasst und auf die Zeichen, die ihnen gegeben wurden, gehört. Man hätte die extreme Hitze stoppen können, der Klimawandel ist real, sie sind das lebendige Beispiel dafür.
Sie geht zurück zu ihrem Haus, langsam, denn das einzige, wovon sie wirklich genug haben, ist Zeit. Ihr Vater erzählt oft von dem Leben früher, als alles da war, bloß die Zeit nicht. Alles musste schnell gehen, Zeit war Geld. Ob das wohl der Ursprung des ganzen Übels war? Hatte man dadurch verpasst, sich Zeit für unseren Planeten, unsere Lebensgrundlage, zu nehmen, ihm zuzuhören und auf seine Bedürfnisse zu achten? Hätten sie dann die ganzen Hinweise und Warnungen wahrgenommen? Extreme Niederschläge, Überschwemmungen, Wirbelstürme als einen lauten Hilferuf, ein „Ihr tut mir weh“ von unserer Erde.
Wäre die Welt damals nicht voller Konsum, Materialismus und Hektik gewesen, wäre es nicht immer um schneller, weiter, höher, billiger, gegangen, könnte ich jetzt auch ein Schaumbad nehmen, denkt Kay sarkastisch.

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Autorin / Autor: Lisa Salot, 19 Jahre