Der Wald ohne Bäume

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Benedikt S. Gotzens, 16 Jahre

Es begab sich, dass auf einem kargen, freien Feld ein kleines Wäldchen stand und seit jeher war es die Heimat unzähliger Tiere, die Schutz und Nahrung in ihm suchten und ihre Behausungen in ihm hatten.
Ohne den kleinen Hain wären die Tiere den Gefahren und Plagen der Öde, welches ihr sicheres Grün umgab, hilflos ausgeliefert und viele von ihnen würden in ihr umkommen. Denn der Wald gab ihnen alles, was sie zum Überleben brauchten.
Doch wohnten die Tiere schon so lange ihn ihm, dass sie bald vergessen hatten, wie bedeutsam er doch für sie war und was sie ihm eigentlich alles zu verdanken hatten; und es kam die Zeit, da die Tiere des Waldes all die herrlichen und lebensnotwendigen Dinge, die ihre Heimat ihnen schenkte, für selbstverständlich hielten und sich einredeten, sich um ihre Angelegenheiten nicht mehr kümmern zu müssen. Sie hatten vergessen oder beachteten nicht, was die weise Eule beharrlich predigte, nämlich dass sie stets gut auf ihre Heimat Acht geben und sie unermüdlich hegen und pflegen sollten.
Doch die meisten Tiere lachten sie nur aus und beachteten sie nicht weiter, denn was sollte schon passieren? Der Wald war schon so lange da und er würde bestimmt auch noch lange bestehen, wieso also sollte man sich Sorgen um ihn machen - so redeten sie und beschworen damit ihren eigenen Untergang herauf.

Eines Tages nämlich kam ein Biber in den Wald und wollte einige Bäume für sein Zuhause fällen. 
Doch wusste der Biber auch, dass es strengstens verboten war, den Bäumen oder anderen Pflanzen Leid anzutun, diese Vereinbarung war vor langer Zeit getroffen worden und niemand hatte es bisher gewagt, dieses Gesetz auch nur in Frage zu stellen; der Biber war der erste, der jenen Pakt brach, indem er des Nachtens heimlich drei Eschen, die am Flussufer gediehen, fällte und sich aus ihnen ein warmes Heim baute. Er beruhigte sein Gewissen damit, dass es ja noch genügend andere Bäume gebe.

Am anderen Morgen jedoch standen der gewissenhafte Kranich und der scharfsinnige Igel vor des Bibers Türe und stellten ihn zur Rede:

„Habt Ihr etwa unsere ehrenhaften Gesetzte vergessen, Meister Biber?!“, wollte der Kranich wissen.

„Ganz Recht“, stimmte ihm der Igel zu, „was verleiht Euch das Recht, den uralten Vertrag zu brechen und ohne einen Antrag drei Bäume zu fällen? Sprecht!“

Trotzig erwiderte der Biber:
„Was ist euch so an drei mickrigen Eschen gelegen? Macht es denn einen so großen Unterschied, wenn sie heute von mir oder morgen von einem Sturm gefällt werden? Ich sehe zumindest keinen und bin mir keinerlei Schuld bewusst!“, verteidigte er sich.

„Biber, Ihr kennt unsere Gesetze und Ihr habt Euch schuldig gemacht, auch wenn Ihr das bestreitet“, tadelte ihn der Kranich.

„Hiermit fordern wir Euch auf, Eure Tat am morgigen Tage vor dem großen Rat zu verantworten. Dort wird über Eure Schuld oder Unschuld rechtmäßig entschieden werden“, ergänzte der Igel.
Damit verabschiedeten sie sich.

Am nächsten Morgen versammelten sich zahlreiche Tiere, um jener Konferenz beizuwohnen, zu welcher die bedeutendsten Vertreter aus allen Ecken des Waldes geladen waren, um gemeinsam ein Urteil zu fällen.

Der Kranich eröffnete die Sitzung und erläuterte, wessen sich der Biber schuldig gemacht hatte; im Anschluss berieten sich die Räte untereinander flüsternd und nachdem sie sich geeinigt hatten, wurden die verschiedenen Meinungen dargelegt.

Es begann der gewissenhafte Storch: „Nun, meiner Meinung nach muss der Biber verurteilt werden, er hat eines unserer ältesten und wertvollsten Gesetze gebrochen. Es spielt keine Rolle, dass es nur drei kleine Bäume waren, die ohne Einwilligung gefällt wurden. Jeder tote Baum ist einer zu viel, sei er auch noch so klein! Vergesst nicht, was wir ihnen alles zu verdanken haben!“

„Soweit ich mich erinnern kann, hütet ihr Störche doch eure Jungen weit oben im Geäst, nicht wahr?“, erwiderte der listige Wolf, der zwar um die Wichtigkeit der Bäume wusste, doch durch das Fällen würde ihm das Jagen im Dickicht um einiges erleichtert werden.
„Ihr Störche seid doch nur darauf bedacht, dass ihr weiterhin so ungestört für euch sein könnt, in Wahrheit schert ihr euch nicht um gefällte Bäume, solange ihr nicht davon betroffen seid. Hört nicht auf ihn, der Biber hat alles richtig gemacht!“, schloss der Wolf hämisch.

Schließlich war der gutmütige Bär an der Reihe: „Also ich finde, es kann nicht schaden, wenn es ein paar Bäumchen weniger gibt. Wir haben doch so viele von denen, dass die Luft schon ganz stickig ist und außerdem finde ich im Dunkeln meinen Honig nicht so gut. Solange nur meine Höhle schön schattig bleibt, können ruhig mehr gefällt werden!“, erklärte er trotzig.

„Ganz richtig“, pflichtete ihm der vorlaute Rabe bei, der in einem ganz anderen Teil des Waldes wohnte und von dem Vorfall gar nicht betroffen war, „ein Baum mehr oder weniger, was macht das schon aus? Außerdem, wer sagt denn, dass wir die überhaupt brauchen, he?“, fragte er frech in die Runde.

Die Krähe, die ihr Zuhause durch den Biber verloren hatte, entgegnete gereizt: „Was fällt Euch ein? Wisst Ihr denn nicht, dass wir ohne den Wald und seine Bäume umkommen werden? Wir brauchen die Bäume, auch, wenn man das nicht auf Anhieb sieht!“

Nun hatte jeder gesprochen und die Richter verkündeten das Urteil: „Der Biber ist unschuldig! Es dürfen weiterhin Bäume gefällt werden, denn wir können nicht erkennen, weshalb wir sie weiterhin schützen sollten. Sie waren schon so lange da und werden auch noch lange bestehen. Zudem können wir aus ihrem Holz viele nützliche Dinge herstellen, die uns das Leben erleichtern werden“.

Wenige Wochen später war die Hälfte des Waldes gerodet, der Rat hatte die Kontrolle über den Holzschlag verloren und bereute ihr Urteil sehr; denn es kam ein heftiger Sturm, der durch den ausgedünnten Wald fegte und viele Tiere fanden den Tod.
Erst jetzt sahen sie, wie bedeutend die grünen Riesen doch waren und erst in ihrer Trauer erkannten sie, was sie angerichtet hatten. Doch da war es bereits zu spät.

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