Tick, tack.

Beitrag von Alina Noël Voigt, 22 Jahre

Einsetzen. Klick. Warten. Ein dumpfes Geräusch. Metallisches Klirren. Ein leiser Knall. Funken sprühen. Energie verpufft. Tick, tack. Der Zeiger springt weiter. Die Zeit eilt dahin. Tick, tack. Abermals ertönt das dumpfe Geräusch. Dann ein grässlicher Piepton, schrill und unnachgiebig. „Druck abgeschlossen“, verkündet eine monotone Stimme. Dr. Merten greift in die bauchige Vorrichtung und zaubert den soeben fertiggestellten Druck eines Mittelfingerknochens hervor. Vorsichtig hält er ihn zwischen seinen sterilen Gummihandschuhen gegen das kaltweiße Deckenlicht. Der Drucker hat gute Arbeit geleistet – Dr. Merten kann nichts bemängeln. Der Patient wird seinen Finger in weniger als einer Stunde wieder einwandfrei bewegen können. Lange vor Dr. Mertens Zeit als Leiter des Klinikums hatten die Ärzte noch mit einem weißen, zähen Stoff namens Gips gearbeitet, der den Finger stillgelegt und den Knochen im Laufe von Wochen wieder hatte zusammenwachsen lassen. Heutzutage benötigt die Medizin nur wenige Stunden, um Patienten wieder in den Ursprungszustand zu versetzen. Dr. Merten legt den Knochen in ein kleines metallenes Gefäß und öffnet die Tür zum Flur. Wie an jedem seiner Arbeitstage begegnet er niemandem, während er durch die schmalen, weiß getünchten Gänge hinüber zum westlichen Krankenhausflügel läuft. Ein penetranter Geruch von Desinfektionsmittel hängt in der Luft und vermischt sich mit dem süßlichen Duft der Bewegungsmelder, die immer dann einen Sprühstoß Magnolienparfum abgeben, wenn man an ihnen vorbeigeht. Tick, tack. Dr. Merten erhascht einen Blick aus dem Panorama-Fenster im Mittelgang. Hinter den gläsernen Hochhäusern der Stadt geht langsam die Sonne unter und taucht die Welt in einen glutroten Feuerball. Er seufzt. Wie lange ist er schon nicht mehr in der Natur gewesen, hat den Wind in den Haaren und die Sonne auf der Haut gespürt. Er kann sich diese Frage nicht beantworten, es ist zu lange her. Tick, tack. Seine Arbeit verlangt ihm alles ab und er weiß, dass es von heute auf morgen vorbei sein kann, wenn er seine Opfer nicht bringt. Die Stelle des Klinikdirektors ist die einzig personell besetzte Stelle in diesem Unternehmen und eine der wenigen in der ganzen Stadt. Die Arbeitsplätze werden rarer, die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer – wobei die Armen mittlerweile deutlich in der Überzahl sind. Er biegt nach rechts ab in einen Gang, der ebenfalls genauso aussieht, wie die sechs Gänge davor. Er hatte lange gebraucht, sich hier zurechtzufinden, doch mittlerweile kennt er den zehnstöckigen Glaskomplex besser als sein eigenes Haus. Dr. Merten bleibt vor einer Tür mit der Aufschrift „Patient, Robo 24“ stehen und legt seinen Finger auf den Scanner. Tick, tack. Mit einem satten Surren springt ein kleines Fenster in der Tür auf und Natascha kommt zum Vorschein. „Hallo, Dr. Merten! Es freut mich, Sie zu sehen“, summt ihre monotone Stimme. „Wie geht es Ihnen heute?“ Dr. Merten weiß, dass er auf diese Frage nicht antworten muss. Die Begrüßung ist sowieso an jedem Tag dieselbe. Er hält Natascha das quadratische Kästchen mit dem gedruckten Knochen hin und sie nimmt es ihm mit ihren abgespreizten, metallenen Fingern aus der Hand. Ab jetzt wird Natascha übernehmen und dafür sorgen, dass sich Patient Nummer 45 in sehr kurzer Zeit wieder besser fühlen wird. Und darüber ist Dr. Merten äußerst froh, denn er selbst hat nicht die geringste Ahnung von Operationen – seine medizinischen Fertigkeiten reichen über die Kunst des Pflasterklebens nicht hinaus. Als Natascha sich umdreht, um das Kästchen abzulegen, erhascht Dr. Merten einen kurzen Blick auf Nummer 45. Sie liegt kerzengerade im Bett, Hand und Unterarm sind in einem Glaskasten verstaut und an unzählige Kabel angeschlossen. Den dünnen Körper bedeckt nur eine leichte Decke und die spärlichen Haare kleben strähnig an der schweißnassen Stirn. Bereits ein paar Tage lang hat Dr. Merten keinen anderen Menschen zu Gesicht bekommen und nun fühlt er sich in Gegenwart des Patienten plötzlich eigentümlich wohl und geerdet. In solchen Momenten spürt er, wie sehr er menschliche Interaktion und Nähe vermisst. Warme Gefühle regen sich in ihm, doch er kämpft sie nieder und versucht, sich seinen menschlichen Eigenschaften zu widersetzen. Und dann dreht Nummer 45 den Kopf langsam zu ihm herum und blickt ihm direkt in die Augen. Für den Bruchteil einer Sekunde schaut der Mediziner gegen eine Wand – eine steinerne Wand aus kaltblauen Augen. Klick. Das kleine Fenster hat sich wieder geschlossen. Und Dr. Merten hört nur noch das monotone Geräusch der Uhr, die sich als Advokatin der Zeit gegen ihn verschworen hat. Tick, tack.

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Autorin / Autor: von Alina Noël Voigt