Das produktive Reptil

Beitrag von Hannah Wendt, 20 Jahre

Der Mensch der Zukunft hat es mal wieder in der Hand. Er, der Erwerbstätige, steht aber auch immer mehr in seiner eigenen Pflicht. Wie sieht diese Verantwortung aus, die als Verheißung daherkommt, doch auch als Notwendigkeit, als Zwang — und was bedeutet sie für das Verständnis des arbeitenden Individuums?
Insbesondere in den letzten Jahrzehnten haben sich einige Veränderungen angebahnt, die einen Ausblick bereits andeuten.
Galt es früher noch, den zukünftigen Arbeitnehmer mit seinen schon angelegten Talenten bis zu einem idealen Grad auszubilden, ihn daraufhin anzustellen und bis auf einige Weiterbildungen als eher konstante, zuverlässige Kraft zu schätzen, so muss der Arbeitnehmer der Zukunft, mehr noch als jener der Gegenwart, als Projektionsfläche unaufhörlicher Möglichkeiten herhalten.
Wohl ursächlich verbunden ist dieses Phänomen mit einem Bedeutungswandel: Stabilität wird mit Stillstand assoziiert, dieser wiederum bald als Rückwärtsgewandtheit empfunden, da Entwicklung als Voraussetzung gilt. Und Rückwärtsgewandtheit ist Alter, ein Attribut, welches ohnehin in Verruf gerät: Der moderne Mensch ist jung und wandelbar, denn Wandel ist innovativ.
Wenn unsere Gesellschaft als Innovationsgesellschaft zu bezeichnen ist, so ist alles Statische trotz seiner Qualitäten ein Manko. Ist dies jetzt bereits zu beobachten, kann es sich in Zukunft ohne Weiteres nur verstärken, denn der Innovationsgedanke ist nicht nur unvermindert jung; er verjüngt sich im Gegensatz zur Gesellschaft sogar noch.
Im Rahmen der Globalisierung werden immer größere Teile der Welt in den zukunftsverheißenden Chor einstimmen, der mit Engelsgesang den Fortschritt verkündet, ein scheinbar nicht versiegender Quell von Möglichkeiten. Auch die Idee, alles ließe sich ewig optimieren, jene Überzeugung vom sich gegen alle Widrigkeiten bahnbrechenden Guten, wird seinen Platz in der zeitgeschichtlichen Mentalität ausbauen können — zu schön ist die Vorstellung, das gesamtmenschliche Schicksal ließe sich eigenverantwortlich dem Glück zuwenden. Heilsbotschaften hatten schon immer eine große Anziehungskraft.

Nun hat sich seit der Proklamation der Evolutionstheorie Darwins und im Einverständnis mit aufklärerischen Positionen, die sich des Protagoras’schen anthropos metron panton in einer Weise bedienen, die es gestattet, den menschlichen Geist nicht nur als Zeugnis seiner evolutionäre Erhabenheit, sondern auch als Freibrief für eine idealistische Selbstoptimierung zu lesen, die Idee eines paradoxerweise festgelegten, doch auch beeinflussbaren Ganges der Dinge etabliert. Die Annahme ist: Der Weg in die Zukunft, und das gilt für die Natur wie auch für Märkte und Firmen, geht über Evolution. Auf eine Weise, die dank ihrer eindringlich behaupteten Natürlichkeit so unwillkürlich wie unanfechtbar erscheint, bewährt sich im Wettkampf das eine oder das andere Modell. Jenes, das in der Lage war, sich zu behaupten, erfährt Wohlstand — das unterliegende muss scheitern.
Weshalb wird dieser Prozess als so zwangsläufig empfunden? Einfach, da implizit angenommen wird, das eine sei tatsächlich besser als das andere und die Zeit bringe diese Differenz lediglich zutage. In einer idealen Welt muss und wird, so der Gedanke, das Bessere sich durchsetzen. Diese strebt also immer einem wachsenden Positiv entgegen, alles Prozesshafte muss an seinem Endpunkt eine Verbesserung bereithalten. Wenn nun in Zukunft der Wettkampf nicht ein immer harscherer zwischen sich schmälernden Unterschieden werden soll, muss man davon ausgehen, dass weiterhin am laufenden Band neue Möglichkeiten produziert werden.

Diese Herausforderung wird seitens der Unternehmen aus Selbsterhaltungsgründen freilich angenommen.
Ein Holperstein auf diesem Weg allerdings ist die demografische Entwicklung. Sofern gleichbleibend wenige Kinder in Deutschland geboren werden und zeitgleich die Lebenserwartung steigt, altert die Belegschaft, und auch die Integration der Zuwanderer, die frischen Wind in den Arbeitsmarkt bringen könnten, muss erst einmal erfolgen — wiederum durch die bestehenden Kräfte.

Will eine Firma zukünftig auf derselben Stufe der Konkurrenzfähigkeit bleiben, vielmehr noch immer produktiver, tüchtiger werden, dann bedeutet es, dass jeder Einzelne der quantitativ schrumpfenden Menge von zusätzlich alternden Arbeitskräften auf die sich verschärfenden Bedingungen reagieren muss, er folglich immer mindestens auf der Höhe der an ihn gestellten Herausforderungen zu stehen hat. Dies ist der Weckruf der bereits jetzt inflationär beschworenen „Flexibilität“. Als Fähigkeit zur ständigen Metamorphose wird sie von Arbeitnehmern wie Arbeitgebern zur Anpassung an immer neuerlich auf den Arbeitenden einströmende Anforderungen verlangt.

Setzt man nun also, dass Innovation auch in Zeiten des demografischen Wandels kein Mythos ist, dann bedeutet es, dass die Arbeitskräfte von nun an als stetig neu zu schreibende Geschichte aufzufassen sind, ein jeder wird zur täglichen Neuerfindung gezwungen sein. Im Grunde ist es der Abschied von der Idee eines statischen Individuums — nur insofern statisch, als es bestimmten Voraussetzungen folgt: Wesenszügen, Grenzen der Fähigkeiten.
Ein neues Bild des arbeitenden Individuums, das den beschriebenen Annahmen entspricht, muss diese Bedingtheit als Unterlegenheit auslegen und verneinen. So wird der arbeitende Mensch der Zukunft zwar das Gefühl haben, es sei ihm möglich, alles zu werden, doch er wird auch tatsächlich alles werden müssen — ein immenser Verantwortungsdruck. Angesichts der Tatsache, dass dieser theoretische Ansatz gewissermaßen einer ökonomischen Notwendigkeit und nicht unbedingt der Empirie entspringt, könnte sich herausstellen, dass das menschliche Gemüt einer derartigen Anspannung nicht gewachsen, beziehungsweise das Subjekt einfach kein Konstrukt von solcher Dehnbarkeit ist. So birgt dieses Prinzip die Gefahr, das Individuum fatal zu verkennen — das heißt, sich selbst zu verkennen.

Die Möglichkeiten, dem zu begegnen, sollten Gegenstand der Überlegungen in den nächsten Jahren sein.
Bis dahin muss der Mensch zum Chamäleon mutieren.

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Autorin / Autor: Hannah Wendt, 20 Jahre