DREI KAKERLAKEN SITZEN ZUSAMMEN IM SCHAUFENSTER EINES ALTEN, LEERSTEHENDEN LADENS AUF EINEM STAPEL BÜCHER IN DER MITTAGSSONNE, SCHAUEN AUS DEM FENSTER UND UNTERHALTEN SICH

Beitrag von Lea Lieselotte Wehler, 17 Jahre

„Es ist doch ganz egal, wann man sie beobachtet“, ruft Chen Lu aus und deutet missbilligend auf die am Fenster vorbeihastenden Menschen,“ tagsüber rennen diese ganzen Politiker, Juristen und Künstler vorbei, deren Gehabe mit den Geisteswissenschaften man kaum Arbeit nennen kann und nachts sieht man all diese traurigen Arbeiter, die sich heimlich in Fabriken und auf den Feldern abrackern, damit die anderen nichts davon mitbekommen.“ „Wenn die anderen wissen würden, wie ernst die Situation bereits ist, würden sie alle Panik bekommen“, meint Chen Lus Cousine Racha, die versucht jedem vorbeigehenden ein aufmunterndes Lächeln zu schenken,“ und sie würden sich auch alle aufregen. Immerhin haben die Fabrik- und Feldarbeiter Chefs und sind nicht selbstständig.“ Chen Lu nickt bekräftigend. „Und das ist eine echte Sauerei, wenn du mich fragst!“ „Ach was!“, Racha schüttelt heftig den Kopf,“ jeder Chef kommt aus der eigenen Belegschaft, wird demokratisch von seinem Betrieb gewählt, bekommt dasselbe Gehalt wie seine Angestellten und kann auch jederzeit wieder abgewählt werden. Was ist daran schlimm?“ „Du weiß genauso gut wie ich, dass die Chefs auch noch etwas anderes bekommen“, entgegnet Chen Lu sofort und Racha verdreht die Augen. „Die alte Verschwörungstheorie wieder.“ „Das ist keine Verschwörungstheorie!“, regt sich Chen Lu auf,“ es ist Fakt! Die Chefs werden mit Daten bezahlt, die einzige wertvolle Währung, das letzte Mittel, dass noch echte Kauf- und Handelskraft garantiert. Und weißt du auch was sie so wertvoll macht? Dass du und all die anderen Dummköpfe da draußen, das immer noch nicht begriffen haben. Früher war es Geld, heute konzentrieren sich Informationen über Personen, Wissenschaft und den Planeten in den Händen weniger Leute und rate mal, wer die alle sind: Chefs von irgendwas! Eines Tages wachen wir alle auf und plötzlich wird es wieder sein wie im Mittelalter. Die Mächtigen wissen alles, die schwachen gar nichts und den Rest liest du einfach mal in einem Geschichtsbuch nach!“ „Das ist doch... Was meinst du dazu Großvater George?“ Großvater George setzt sich in seinem Sessel aufrechter hin und sieht erst seine beiden aus China und Mexiko angereisten Enkelinnen an und dann hinaus auf die Straße. „Unterschätz Chen Lus Worte nicht, Racha“, sagt er ruhig,“ zumindest über die Macht der Daten. Was die Chefs angeht, stimme ich dir allerdings zu. Daran wie sie zustande kommen, gibt es nichts auszusetzen. Ich frage mich sowieso, ob es richtig ist, dass sich die halbe Menschheit für das Arbeiten nicht mal mehr vom Sofa erheben muss.“ „Wieso?“, will Chen Lu wissen,“ Selbstständigkeit hat jede Menge Vorteile.“ „Aber auch Nachteile“, fährt Großvater George fort,“ sieh dir die Kunst doch heutzutage an. Vollkommen wertlos. Weil jeder zweite versucht Künstler zu sein. Und so gehen die wahren Künstler unter in einer Masse von Leuten, die ursprünglich einmal Maschinen warten und steuern sollten und für die es zu spät ist sich noch einmal umzuschulen. Pessimistischere Personen würden gar von einem Untergang unserer Kultur sprechen.“ „Das liegt aber nicht an der Selbstständigkeit“, schaltet sich Racha dazwischen,“ sondern an dem Ressourcenmangel und daran, dass der Mensch viele Jahre lang fast nirgendwo mehr zu gebrauchen war. Industrie, Landwirtschaft, Läden, öffentliche Verkehrsmittel, Herstellung, Polizei, Militär, Pflege, Medizin, Erziehung – das ist alles automatisiert worden.“ „Ja“, Chen Lu lächelt spöttisch,“ und jetzt nach all der Zeit wo sich jeder gerade an den Roboter mit der Waffe und den Roboter mit dem Baby gewöhnt hatte, gibt es leider nichts mehr mit denen man die Roboter betreiben, geschweige denn neue entwickeln kann.“ „Das ist nicht das eigentliche Problem“, meint Großvater George ernst,“ dann wird der Mensch eben all diese Dinge selbst erledigen müssen, was zwar dauern wird und Diskussion bedeutet, aber eigentlich unterscheiden sich Roboter nicht sonderlich von Menschen, beide brauchen Strom und Energie. Wo die herkommen soll, wo jetzt alles Uran, alle Fossilien aufgebraucht sind, das ist wirklich ungewiss. Und so geht es schließlich mit den meisten Stoffen, die unverzichtbar sind, für den Lebensstil der Menschen.“ „Ich frage mich immer noch, wie sich die Menschen so verschätzen konnten“, Racha seufzt besorgt,“ die erneuerbaren Energien werden jedenfalls nicht reichen, für so viele Menschen, die immer noch mehr und mehr werden.“ „Und das liegt widerum daran, dass die erneuerbaren Energien nicht genügend optimiert sind“, wendet Chen Lu ein,“ tja, hätte man statt Robotern und künstlichen Intelligenzen lieber mal an etwas geforscht und rumerfunden, was man tatsächlich braucht.“ „In den Schulen wird aber gerade das doch so gefördert“, hält Racha dagegen,“ sieh dir die Welt doch an. Jedes Land versucht sich zu überbieten, mit dem Forschungs- und Technikunterricht.“ „Darf man von zwölf- und siebzehnjährigen wirklich erwarten, dass sie einem eine Lösung für die globale Ressourcenerschöpfung erfinden?“, fragt Großvater George lächelnd. „Ach, die sind genauso verblendet wie ihre Eltern“, lästert Chen Lu,“ träumen von immer tolleren Maschinen und verschieben ihre eigentlichen Probleme immer auf morgen und morgen... bis auf den Tag X und an diesem Tag wird das alles hoffentlich ein schnelles und leises Ende finden.“ „Immerhin gibt es derzeit überall Arbeit“, Racha versucht ihre Cousine  und ihre bedrohlichen Worte zu ignorieren,“ und zwar wirklich überall. Egal ob in Europa, Afrika, Amerika, Australien oder Asien und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sieht es so aus, als gäbe es eine Welt und nicht eine erste und eine dritte.“ „Wie schön“, Chen Lu klingt sarkastisch,“ dann können sie alle zusammen sterben.“ „Oder sie schaffen es“, Großvater George versucht hoffnungsvoll dreinzuschauen,“ alle gemeinsam.“

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Autorin / Autor: Lea Lieselotte Wehler, 17 Jahre