Eine Zukunft aus zwei Welten

Beitrag von Sally Liu, 17 Jahre

Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten…
Dies sind die Zeilen, mit denen der Roman „Eine Geschichte aus zwei Städten“ beginnt.
Wie sehr müsste Charles Dickens wohl staunen, wüsste er, dass seine Worte auch heute noch – ein halbes Jahrtausend später – eine so treffende Beschreibung unserer Lebensumstände leisten wie damals zu Zeiten der Französischen Revolution.
Zwei große Unterschiede gibt es freilich.
Erstens: unsere Geschichte handelt nicht von zwei Städten, sondern von zwei Welten.
Und zweitens: was einst Geschichte war, ist heute Realität.

Wenn ich von zwei Welten spreche, so hüte ich mich, sie mit Begriffen wie „Erste“ und „Zweite“ oder „Alte“ und „Neue“ Welt kennzeichnen zu wollen. Denn das sind alles relative Begriffe, und in einer Epoche, in der Relativität und überhaupt Relationen jeglicher Art schon als anachronistisch gelten dürften, wären all diese Begriffe schlichtweg obsolet.
Nennen wir sie daher, wie Dickens auch schon, den „Frühling der Hoffnung“ und den „Winter der Verzweiflung“.
Dass diese zwei Welten eigentlich eine sind, wird euch noch klar werden.

In dieser Welt also lebt ein jeder nach dem selben Motto: Rationalisierung!
Aber wo ist diese Ratio, diese Vernunft eigentlich?
Finden wir sie vielleicht in den Köpfen der Telepathetiker, den Meistern der Telepathieforschung, die es uns ermöglichten, bequem von zu Hause aus über das weltweite Gedankennetzwerk zu kommunizieren, und das sogar mit mehreren Personen gleichzeitig? Oder sollten wir diesen pathologischen Forschern nicht doch lieber die aristotelischen Peripatetiker vorziehen?
Vielleicht gebührt unser Respekt aber auch den Pionieren der Traum- und Traumaanalyse. Schließlich gelang es erst mit Hilfe ihres Enzephaloskriptors, die wirren Zitterkurven des EEGs zu entschlüsseln und uns die Träume unserer Mitmenschen  auf dem Neurocinemax 4.0 als Kinofilm zu präsentieren. Ihnen verdanken wir es, dass die Geheimnisse des Unterbewusstseins für die Markt- und Werbeforschung zugänglich wurden – The End hieß es somit für unsere allseits verhassten Cookies.
Zweifelsohne war es doch auch ein Akt der Vernunft, dass all diese platzraubenden Einkaufsläden endlich abgerissen wurden. Wozu auch Schlange stehen oder auf eine Lieferung warten, wenn unsere häuslichen Produktionsstätten, genannt 3D-Drucker, uns instantan mit Lebensmitteln und Waren versorgen können?

Und doch sind wir einer wichtigen Komponente der Vernunft bislang nicht begegnet: der Verantwortung. Schon Dürrenmatts Physiker wussten, dass mit Wissen und Forschung eine wachsende Verantwortung einhergeht. Doch je größer diese wird, desto mehr schwindet das Bewusstsein ihr gegenüber.
Dort, wo die Klimaforschung Krebspatienten „heilende“ (euphemistisch für: giftige) Chloroplasten spritzt, um durch menschliche Fotosynthese der Erderwärmung entgegen zu wirken;
dort, wo die Wunschkindfabrik mittels Gentechnik eine perfekte, leistungsstarke, uniforme Gesellschaft produziert, weil „Survival of the Fittest“ jetzt wörtlich genommen wird;
dort, wo die neue Droge „Virtual Reality“ als Eskapismus des 24. Jahrhunderts missbraucht wird.
Ich frage euch: Wo ist dort die Verantwortung?

Wir leben in einem Zeitalter des Paradoxen, ja, die Zeit selbst ist paradox geworden.
Das LucidLearning Programm verlagerte sämtliche Unterrichtszeiten in die REM-Phasen des schlafenden Schülers und verlängerte dessen bewussten Tag von sechzehn auf vierundzwanzig Stunden.
Den Sonnenjägern war dies nicht genug: sie fingen das Sonnenlicht ein und verkaufen es derzeit auf dem Heliosmarkt für astronomische Preise.
Und die Erfinder von Vacuulux? Die planen nichts Geringeres, als eine Zeitreise in beide Richtungen zu ermöglichen!
Aber wer gibt uns eigentlich die Erlaubnis, Genies und Berühmtheiten ihrer wohlverdienten Ruhe zu berauben? Wer gibt uns die Garantie, dass Vacuulux einen Einstein von einem Hitler, einen Newton von einem Stalin unterscheiden kann?
Nie war unsere Gesellschaft so visionär, nie so rückwärtsgewandt gewesen;
nie war die dünne Grenzschicht zwischen Gestern und Morgen, die Gegenwart, so erbärmlich dünn gewesen;
nie hatte die Zukunft einen höheren Stellenwert als in der Vergangenheit;
nie lebten wir mehr in der Vergangenheit als in diesem Moment.

Es gibt sie noch immer: die Ausbeutung, die Überstunden, die Lohnkürzungen. Als hätte man sie in den Vacuulux gesteckt und den Modus „Zeitstillstand“ gewählt.
Und heute gibt es sogar noch mehr. Enthumanisierung. Individualitätsverlust. Räuber der Privatsphäre. Diebe des Unterbewusstseins.
Manche nennen es das Schicksal der Menschheit, bestehende stets mit dem Schaffen neuer Probleme zu bekämpfen. Aber wer von „Schicksal“ spricht, ist doch nur zu feige, das Wort „Verantwortung“ auszusprechen.
Menschen lieben es, zu planen; versessen, rigoros, apodiktisch.
Die Menschheit hatte einen Plan, doch er ging nicht auf.
Sie plante die Zukunft der Freizeit, die Zukunft der Bildung, die Zukunft der Forschung.
Aber was sie nicht plante, das war: die Zukunft der Zukunft.
Es mag der wohl wichtigste unausgeübte Beruf in jener Welt sein, ein Beruf jenseits der Klima-, Markt- und Traumforschung; ein Beruf, den auszuführen sich die Menschen scheuen, den auszuführen sie so bitter nötig hätten.
Es ist der Beruf des Zukunftsforschers.
Seine Weitsicht, seine Voraussicht und nicht zuletzt sein Verantwortungsbewusstsein sind es, was der Menschheit jetzt noch helfen kann, den kalten Winter der Verzweiflung zu überdauern.

Denkt doch nur einmal daran, wie wir eines Tages die ersten Sonnenstrahlen die Schneedecke durchdringen sehen, wie wir dann den Vacuulux öffnen und es nicht die Probleme des 21. Jahrhunderts sind, die uns begrüßen.
Stellt euch vor, der darin steht, das wäre niemand anderes als Charles Dickens persönlich.
Er wird kommen, um das Ende seiner Geschichte zu erzählen.
Und könnt ihr euch etwas Schöneres vorstellen, als dass Sydney Cartons letzte Worte auch die unseren sein können?
Ein weit besserer [letzter] Platz, als ich je einen gesehen habe.

Einsendungen zum Schreibwettbewerb

Autorin / Autor: Sally Liu, 17 Jahre