Die Reparatur eines Menschen

Beitrag von Sophia Weller, 17 Jahre

Doktor Daniel Dick nahm den Anruf mit einer einfachen Handbewegung entgegen und augenblicklich befand er sich in dem heruntergekommenen Operationssaal – wenn man den niedrigen Raum überhaupt so nennen konnte – in Ostafrika, genauer gesagt Somalia. Nun natürlich befand er sich nicht wirklich dort, lediglich seine digitalen Augenlinsen und die kleinen Knopflautsprecher in seinem Gehörgang vermittelten ihm den Eindruck dort zu sein. Die große Stehfläche in seinem Büro projizierte seine Gestalt quer über den Atlantik in das niedrige Betongebäude, welches in dem Krisengebiet als Krankenhaus diente. Er hörte gedämpfte Schreie und Autolärm, der durch die schäbigen, gekippten Fenster drang, sah die matt glänzenden Operationsgeräte in der flimmernden Luft und die Schweißperlen, die langsam die glatte Stirn der zuständigen Pflegekraft herunterrannen. Doch obwohl er fast meinte die stickige Luft spüren zu können, war es in Wirklichkeit die kühle, klimatisierte Luft seines New Yorker Büros und der kräftige Geruch seines Lederbürostuhls, die ihn immer noch umgaben. „Willkommen Doktor Dick“, begrüßte ihn eine automatische Stimme und erst jetzt bemerkte er die silberne Kugel, die neben dem OP Tisch gleichmäßig hin und her rollte. Ein klassischer Leonardo 3.0, ein OP Roboter wahrscheinlich gestellt von einer einfachen Hilfsorganisation. Hier in New York arbeiteten sie bereits mit den 5.2 Modellen. Daniel Dick nickte ihm knapp zu und beugte sich über die regungslose Gestalt, die halb bedeckt auf dem Tisch lag. „Was haben wir hier?“ Geschäftig rollte der Leonardo neben ihn. „Zivilist. Bürgerkriegsopfer. Beschädigung eines Hüftgelenkimplantates. Folgende Entzündung am musculus piriformis“ Doktor Dick wies den Bot an das grünliche Tuch, welches den Unterleib des Patienten bedeckte, anzuheben und besah sich den Hüftbereich. Er war rot und geschwollen und es war eine schmale, blutverkrustete Schussstreifwunde zu sehen. „Ist das Implantat bio- oder technologisch?“, fragte Doktor Dick und wartete geduldig, bis der Roboter die Information in seinem Datensystem gefunden hatte. Die 3.0 Version ließ an Geschwindigkeit wirklich zu wünschen übrig. „Das Implantat ist technologischer Herkunft ohne biologische Elemente“, verkündete Leonardo 3.0 schließlich. Daniel Dick stöhnte innerlich auf. Viele Zivilisten in Entwicklungsländern ließen sich inzwischen billig Implantate von nicht ausgebildeten Chirurgen einsetzen ohne sich dabei Gedanken über die Gefahren zu machen, die mit einem Techno-Implantat daherkamen. In Amerika und Europa waren diese Implantate schon lange verboten und waren nur noch gezielt auf Schwarzmärkten zu erstehen. An ihre Stelle waren die Bio-Implantate getreten, die weitaus besser mit der körperlichen Umgebung reagierten und sich anpassten. Techno-Implantate, wenn sie nicht richtig eingesetzt wurden, entzündeten oft die umliegenden Gewebe und fielen außerdem durch viele Fehlfunktionen und Bugs auf. Trotzdem waren Techno-Implantate gerade in Kriegsgebieten sehr beliebt um körperliche Fähigkeiten zu steigern oder sich eine spezielle Waffe oder Panzerung einbauen zu lassen. Der Patient jedoch, der in diesem Moment unter einer hoffentlich guten Narkose vor dem Doktor lag, hatte das Implantat als Prothese nach einer Schießerei bekommen, das verkündete jedenfalls die Krankenakte, die nun auf Dicks Augenlinsenfläche erschien und die er eilig überflog. Der Leonardo Bot wartete stumm auf weitere Anweisungen. Gerade schloss Dick mit einer Handbewegung wieder die Krankenaktendatei, als die Tür zu seinem Büro in New York aufflog. Instinktiv fuhr Daniel Dick herum und bekam dafür einen verwirrten Blick der zuständigen Pflegekraft in Somalia, einer untersetzten, älteren Frau, die bis zu diesem Zeitpunkt nur stumm in der Ecke gestanden hatte. Dick deaktivierte die Augenlinse auf einem Auge, nahm die Lautsprecherknöpfe aus seinen Ohren und schaltete sein Kehlkopfmikro ab. „Was ist?“, fragte er leicht gereizt, als sein schimmernder Secretary Bot durch das Büro rollte. „Die Journalistin des New Yorkers, Hannah Huxley, ist im Warteraum. Sie hat einen Termin mit ihnen um 15 Uhr“ Der Bot rief Dicks Terminkalender auf und spielte ihn auf die Touch Oberfläche des Schreibtisches. „Ich bin mitten in einer Operation“ Dick würdigte den Terminkalender keines Blickes. „Soll ich den Termin verschieben?“, fragte der Bot mit fast nerviger Höflichkeit. „Was will sie überhaupt von mir?“, fragte der Doktor, während auf seinem anderen Auge die Pflegekraft in Somalia ihn immer noch aus ihrer Ecke anstarrte. „Ein Kommentar zu den neuen Nanorobotern, die gestern auf dem 112. internationalen Medizinkongress vorgestellt wurden.“ Dick massierte sich die Schläfen, schloss die Augen – auch wenn das nur auf das Auge mit der deaktivierten Linse eine Auswirkung hatte – und versuchte sich verzweifelt an den gestrigen Abend zu erinnern. Dazwischen lag eine heftige Auseinandersetzung mit seiner Frau, die sich weigerte die Kinder von der elektronischen Haushaltshilfe zu Bett bringen zu lassen und vier daraufhin folgende volle Gläser frisch gelieferten Scotch. Er gab auf. „Was war mit diesen Nanorobotern?“ Ein Vorteil der KIs. Sie urteilten nicht. „Ab nächstem Jahr sollen Nanoroboter in die Blutbahn gegeben werden, um die Abwehrzellen zu unterstützen und beispielsweise Tumorzellen gezielt anzugreifen“, rasselte der Secretary Bot herunter. Wahrscheinlich abgelesen von dem offiziellen Protokoll des Kongresses. Dick seufzte: „Bitte verschiebe den Termin“ Der Bot fiepte bestätigend und rollte wieder aus dem Büro. Der Doktor atmete kurz tief durch, schob sich die Lautsprecher wieder in die Ohren und aktivierte Kehlkopfmikro und Linse. „Tut mir leid für die Unterbrechung. Fahren wir fort“, sagte er, nun wieder in Somalia. Er bedeutete dem Leonardo ein Skalpell in die Hand zu nehmen. „Trenn die Haut an der Hüfte auf. Achte darauf das Implantat nicht zu beschädigen“ Die KI rollte an den OP Tisch und versenkte ohne Zögern und Zittern die sterilisierte Klinge in der weichen Haut des Patienten.

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Autorin / Autor: Sophia Weller, 17 Jahre