Die Verteidigung der Achillesferse

Kurzgeschichte von Julika Enslin, 21 Jahre

“Was soll ich denn nun tun?” Die Worte kommen in einer Lautstärke aus dem Hörer, die sich nur schwer von meinen Ohren ertragen lässt. Eigentlich höre ich kaum noch zu und versuche viel mehr zu erkennen, bei welchen Stichworten ihre Stimme besonders stark zittert oder gar bricht. Sie braucht jetzt jemanden, der ihr zuhört, dem sie all ihre Panik entgegenschmettern kann, bevor sie ihr wieder wie in einer Gummizelle entgegenkommt.
“Unregelmäßiger Satzbau, Schnappatmung, kann Zusammenhänge noch weithin deutlich darstellen, keine Anzeichen von Selbstzerstörungswahn oder Gewaltbereitschaft”, notiere ich ich mir vorsichtig.
Neben mir höre ich meinen Kollegen Jakob, wie er versucht, ein paar beruhigende Sätze zwischen das andauernde Schluchzen eines Anrufers zu manövrieren. Der Geräuschkulisse aus seinem Hörer nach zu folgern, hat er nur mäßigen Erfolg. Am anderen Ende meines Gesprächs ist es nun still, nur noch ein angestrengtes Atmen ist zu vernehmen. Ich breche vorsichtig das Schweigen und packe Stück für Stück meine Engelszungen aus. Erfolgreich. Psychologie war damals eines der Hauptfächer unserer Ausbildung gewesen und hat sich zumindest in meiner Abteilung als mehr als nützlich erwiesen.

Man hatte versucht, uns darauf vorzubereiten, die Albträume all dieser Menschen zu verstehen und gleichzeitig zu beenden. Denn, sind wir ehrlich, in einer Welt in der alle glücklich jeder beliebigen Aktivität nachgehen können und ihnen jeder Service automatisch zur Verfügung steht, gibt es doch nur eines, was schief gehen kann: “Das Internet funktioniert nicht mehr.”
Während man in den letzten Jahrzehnten jede, aber auch wirklich jede, Arbeitstätigkeit durch einen über das Internet gesteuerten Roboter, einen mobilen Laptop oder ein anderes elektronisches Gerät ersetzen konnte, blieb die Frage offen: Wer kümmert sich um das Internet?
Alles ließ sich perfektionieren, das Internet hielt eine Lösung für alle noch so vielseitigen und komplizierten Probleme bereit, nur eben nicht für sich selbst.
Und so kam es dazu, dass schließlich nach einer Episode der bürgerkriegsnahen Zustände, mit der höchsten Mordrate seit Beginn der Aufzeichnung, das „Offlife“ ins Leben gerufen wurde.
Denn der berühmt berüchtigte Satz “das Internet funktioniert nicht”, den alle meine Anrufer früher oder später herauspressen, versetzt sie aus einem glücklichen Zustand in einen, den sie gar nicht kennen und den sie bestenfalls als Gegenteil beschreiben können.

„Offlife“ gibt es mittlerweile in jeder Stadt, auch wenn wir meist sowieso per Telefon kontaktiert werden. Oft brüsten wir uns, damit die Superhelden unserer Zeit zu sein.
Der Mensch hat schon lange keine natürlichen Feinde mehr, keine Krankheiten, die ihn wegraffen oder eine Natur, die ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Das Internet, unser aller Retter, kontrolliert sie, hat sie umgangen, neutralisiert und ausgetrickst. Es ist, als hätte es eine Glaswand um uns gestülpt, die uns nun erleichtert aufatmen ließ und ein idyllisches Bilderbuchdasein ermöglicht.
Doch bei Ramona, am anderen Ende des Hörers, ist diese Glaswand zerbrochen. Sie schnappt nach Luft, einer Luft, die sie nicht mehr gewohnt ist zu atmen.

Wie soll sie etwas zu essen finden, wenn alles online versandt wird? Wenn sie Freunde und Nachbarn nur noch via Internet kontaktieren kann, ihr Auto über das Netz gesteuert wird und sie ja doch nirgendwo hinfahren könnte ohne das GPS.
Sie ist auf einmal vom Rest der Welt abgeschnitten und der Einzige, den sie jetzt noch hat bin ich, der Notruf.
Jedes Haus hat diesen Knopf, der noch über alte Funkleitungen funktioniert, und ein jeder hofft, nie davon Gebrauch machen zu müssen. Da wir die Einzigen sind, die noch “arbeiten“, wie unsere Vorfahren sagen würden, genießen wir eine sehr hohe Stellung in der Gesellschaft. Die Ausbildung ist intensiv und geht von Grundlagen der Medizin, über Krafttraining bis ins Mechanische. Wir betreuen medizinisch, schlichten Streitigkeiten und reparieren schlussendlich natürlich auch das Internet.

An vielen Tagen braucht es deutlich mehr als nur eine gefeilte Rhetorik, um eine Person zu beruhigen, immerhin stehen diese Menschen vor unser aller Abgrund. Einigen können wir helfen Brücken zu bauen, aber es gibt auch manche, die einfach nur springen wollen. Jakob hatte diese Woche schon gleich zweimal einen selbstmordgefährdeten Anrufer, bei dem schließlich das Außenteam vorbeifahren musste.
Was nämlich von außen wie ein technisches Versagen aussieht, ist gleichzeitig eine psychologische, ja gar philosophische Herausforderung. Man ist wieder das Kleinkind, dessen Eltern in einer Menschenmenge verschwunden sind, allem ausgesetzt und hilflos.
Ja es ist sogar noch schlimmer, denn unser eins, der es gewohnt ist für jede Lebenslage eine Lösung präsentiert zu bekommen, hat nie gelernt, mit dieser Eventualität umzugehen.

Unser Job bringt es so mit sich, früher oder später zu der Frage zu gelangen, ob es das denn alles wert war. Wäre es nicht auch anders gegangen? Kann irgendetwas und sei es das pure Glück, eine vollkommene Abhängigkeit rechtfertigen?
Die meisten Menschen würden sich sicherlich als grenzenlos frei beschreiben, doch ich sehe und höre es von meinem Schreibtisch aus jeden Tag: Wir sind alle abhängig.
Ich habe keine Antwort auf diese Frage und bezweifle, dass einer meiner Kollegen sie hat. Es spielt auch gar keine Rolle, denn uns hat keiner gefragt.
Der Großteil der Menschen wird uns nie kennen lernen, nie um Hilfe bitten und auch nur in die Nähe dieser Fragestellung gelangen. Und wie der griechische Held Achill, der von seiner Verwundbarkeit nichts ahnte, leben sie einen naiven Traum, der für die allermeisten gut ausgeht. Und der Rest hat ja uns.

Das Telefon auf einem Tisch summt wieder, ich nehme den Hörer in die Hand und versuche den Schwall an Informationen, der mir wie eine Tsunamiwelle entgegenschlägt, zu ordnen. Sie ebbt ab, wird langsamer, leiser und endet schließlich in einem beinahe unhörbaren Flüstern: „Was soll ich denn nun tun?“

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