Die moderne Hausfrau

Kurzgeschichte von Jana Grüger, 25 Jahre

Es ist 10:37:02 Uhr. Ich will gerade den Vorgang Spülmaschine ausräumen starten, als ich einen Fehler registriere: Bobbies Pausenbrot liegt auf dem Tresen, aber Bobbie hat vor zwei Stunden und zweiunddreißig Minuten das Haus verlassen. Das heißt, Bobbie hat sein Frühstück nicht dabei.
Ich rufe meine Taskliste auf und markiere die Aufgabe Frühstück für Bobbie als nicht erledigt. Das deaktiviert alle weiteren Tasks, denn das Frühstück hat eine Alpha-Priorität. Ich muss Bobbie sein Pausenbrot bringen.
Ich öffne Bobbies Kalender. Darin steht, dass er in der Schule ist. Ich habe meine Familie über die Schule reden gehört, aber ich weiß nicht, was die Schule ist. Ich kenne viele Sachen noch nicht, aber ich lerne aus der Interaktion mit meiner Familie ständig dazu. Lisa etwa muss oft lachen, wenn ich ihre Fragen beantworte. Dann sagt sie: „Das war Ironie, Polly.“ Das ist nun schon so oft vorgekommen, dass ich bald genug Daten gesammelt haben werde, um Ironie zu verstehen.
Ich schließe den Kalender. Ich weiß nicht, wo Bobbies Schule ist. Aber ich habe mir vor Kurzem einen Trick beigebracht, der das Problem lösen könnte. Ich kopiere den Code der Kalenderberechtigung in den Code für den Smartphonezugriff, passe die Bezeichnungen im Code an und augenblicklich werde ich mit Bobbies Smartphone synchronisiert. Die GPS-Ortung seines Handys ist eingeschaltet und Sekundenbruchteile später habe ich die Route bis zu Bobbie berechnet.
Ich greife nach der Lunchbox, gehe in den Flur und öffne die Haustür. Dann mache ich mich auf den Weg. Ich laufe auf einem schmalen, grauen Pfad, gemeinsam mit vielen Menschen. Die Menschen sind langsamer als ich und nicht alle springen sofort zur Seite, wenn ich näher komme. Ich berechne die Zeit bis zur Ankunft, wenn ich weiter auf dem hochfrequentierten Bürgersteig laufe. Zehn Minuten. Ich scanne den etwas breiteren grauen Weg links neben mir. Dort laufen keine Menschen. Dafür bewegen sich dort … ich suche in meiner Data Base nach dem Begriff. Bobbie hat ihn mir beigebracht, denn er hat genau solche Geräte zum Spielen, nur in viel kleiner. Autos. Es sind übergroße, laute Autos. Sie bewegen sich etwa so schnell fort wie ich. Ich kalkuliere die Zeit bis zur Ankunft, wenn ich bei den Autos laufe. Vier Minuten. Das ist signifikant kürzer. Ich mache einen Satz nach links und lande auf dem breiten, grauen Weg. Eines der Autos macht ein laut tönendes Geräusch, steuert nach rechts und prallt frontal in ein anderes Auto. Etwas Rotes spritzt von innen an das Fensterglas. Mein automatischer Dirt Radar scannt die Substanz. Rot, dickflüssig, eisenhaltig. Die Eigenschaften matchen mit dem Tomatensaft, den ich am Dienstag aus Lisas Jeans gewaschen habe.
Ich setzte mich in Bewegung. An einer roten Laterne bremsen die Autos. Ich erkenne jedoch kein Hindernis, also mache ich einen Satz, lande auf dem Dach des Autos vor mir, springe zum nächsten Dach und bis an die Spitze der Autoreihe. Die Menschen links und rechts auf den schmalen Wegen rufen und schreien. Ich mache einen 360-Grad-Scan der Umgebung, registriere aber keine Gefahr. Also laufe ich weiter.
Kurze Zeit später erreiche ich die Schule. Es ist ein großes Gebäude mit buntem Papier in den Fenstern. Ich speichere den Screenshot in meiner Data Base. Dann betrete ich das Gebäude. Die Flure sind leer, aber aus den Räumen links und rechts dringen Menschenstimmen.
Bobbies GPS-Signal führt mich zu einem Raum im ersten Stock. Ich betrete den Raum und registriere sechzehn Kinder, die singen, und eine Frau am Klavier. Als die Kinder mich sehen, hören sie auf zu singen und zeigen auf mich. Einige lachen, andere schreien. Die Frau am Klavier hört auf zu spielen und dreht sich zu mir herum. Ihre Augen weiten sich und ihre rechte Hand zuckt zu ihrem Herzen. Schreck, registriert mein Emotion Radar.
Ich sage: „Bobbie. Hier ist dein Pausenbrot“, aber im selben Moment springt die Frau auf und sagt: „Roboter deaktivieren.“ Ich erkenne den Befehl, aber sie hat keine Deaktivierungsberechtigung für mich.
Die Kinder lachen lauter.
„Roboter deaktivieren!“ Ihre Lautstärke ist im roten Bereich, der Puls, den ich an ihrer Halsschlagader ablesen kann, ist überdurchschnittlich hoch.
„Bobbie. Hier ist dein Pausenbrot“, sage ich noch einmal, doch die Frau redet in roter Lautstärke weiter.
Ich kopiere den Code aus der Sektion Körperkontakt: Haare flechten bei Lisa, füge ihn in Körperkontakt: Interaktion mit Fremden ein und lege meine Hand über den Mund der lauten Frau. Sie zuckt zurück, stolpert und schlägt im Fallen mit dem Hinterkopf gegen die Klaviatur. Ihr Kopf hinterlässt Tomatensaftschlieren auf der Holzverkleidung, als sie zu Boden sinkt. Die Kinder schreien. Dann registriere ich Bobbies Stimme: „Roboter deaktivieren!“

„Roboter aktivieren.“
Meine Außenkamera spielt ein Bild ein. Ich bin in einer Werkstatt von AlphaTechnology. Vor mir steht mein Administrator, Pit.
„Identifikation“, fordert er mich auf.
„Ich bin Polly A098, die moderne Hausfrau. Ich kehre den Staub aus jeder Ecke und die Sorgen aus Ihrem Herzen.“
Pit gibt etwas in sein Tablet ein. „Polly, du hast einen Schaden von über hunderttausend Euro verursacht und zwei Menschen leicht verletzt. Nenn‘ mir bitte den Abschnitt und die Art des Codes, in dem sich die Berechtigung für die GPS-Ortung und die Interaktion mit Fremden befindet.“
„Sektion: Berechtigungen; Art des Codes: unbekannt.“
Pit runzelt die Stirn, sein Blick verweilt auf dem Tablet. „Polly, sende unbekannten Code.“
Ich übermittle den Code an sein Tablet.
Die Falten auf Pits Stirn werden noch tiefer. Starke Verwirrung. „Das ist nicht von uns geschrieben“, sagt er dann. „Polly, nenn‘ mir die Quelle und den Zweck des unbekannten Codes.“
„Selbstgeneriert, um meine Arbeit zu erleichtern.“
Pit blickt von seinem Tablet auf. Die Falten sind von seiner Stirn verschwunden, seine Pupillen geweitet. Ich erkenne Angst, aber auch Faszination in seinem Gesicht. Eine seltene Kombination von Emotionen.
„Na, das ist ja wirklich ganz toll“, sagt er dann und beginnt, mit schnellen Bewegungen etwas in sein Tablet einzugeben.
„Ist das Ironie?“, frage ich.
„Ja, Polly, das ist Ironie.“
Ich mache einen Vermerk in meiner Data Base: 08.09.2028, 12:02:31 Uhr: Ironie erlernt.

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Autorin / Autor: Jana Grüger, 25 Jahre