Dokumentation Nordkap

Zwischen Rentieren, Eis und Sonnenschein – Lilith ist 12 Tage lang von Heidelberg zum nördlichsten Punkt Europas und wieder zurück gereist.

*10 Jugendliche, 12 Tage, 7500 km, 60 Stunden Schlafdefizit – eine Reise an das Nordkap - das ist eine der Forschungsexpeditionen, die jedes Jahr vom IJM, dem Institut für Jugendmanagement Heidelberg organisiert wird.*

„Happy Birthday to you! Happy Birthday to you! Happy Birthday dear Yannick, Happy Birthday to you”. Yannick sitzt am Kopfende unseres langen Frühstückstischs. Eine Fontäne sprüht vor ihm auf dem Teller Funken und er selbst blickt einfach nur verwundert in die Runde. Unser Forschungskollege startet heute in sein 16. Lebensjahr und das hat selbst unser Hotel in Alta nicht verpasst, sodass dieses ihn heute als erstes mit einem Minifeuerwerk und einem Stück Erdbeerkuchen beschenkt. Mit dieser musikalischen und lichtreichen Darbietung starten wir den siebten Tag der Forschungsexpedition. Wir hatten Yannick bereits pünktlich um Mitternacht mitten in der konzentrierten Arbeit, die noch bis um drei Uhr in den Morgen hineinreichte, gratuliert – jetzt sind wir aber alle etwas wacher, um ihn noch einmal zu beglückwünschen. Wir – das sind zehn Jugendliche aus ganz Deutschland, die sich 12 Tage lang gemeinsam auf eine Expedition von Heidelberg bis zum nördlichsten Punkt Europas und wieder zurück begeben. Kennengelernt haben wir uns gerade einmal vor sieben Tagen – sechs Stunden bevor wir unsere erste Etappe mit dem Bus bis nach Schweden starteten – zu einer Forschungsexpedition ans Nordkap, eine der Forschungsreisen, die das Institut für Jungendmanagement, Heidelberg (IJM) jährlich organisiert. Das Institut will es jungen Menschen ermöglichen, den Alltag von Forschern selbst zu erfahren, von der eigenen Finanzierung über das Sammeln von Informationen zur Auswertung und Dokumentation. Die Reise wurde nicht einfach von den Eltern bezahlt, sondern jeder von uns musste Sponsoren finden, die das Forschungsprojekt unterstützen. In meinen Fall waren das die BBBank Karlsruhe und der Waldbronner Lions Club. Kurz und gut vor sieben Tagen ging es pünktlich um Mitternacht von Heidelberg los, nachdem wir uns auf die Zielsetzungen unserer Forschungsexpedition geeinigt hatten. Danach hieß es jedoch nicht schlafen, denn wir mussten zunächst zu jeder Zielsetzung in den drei Forschungsbereichen „Flora, Fauna, Klima“ „Mensch, Kultur, Sprache“ sowie „Wirtschaft und Infrastruktur“ die passende Methodik heraussuchen. Denn in allen drei Bereichen werden alle zehn der Forschungsteilnehmer in den nächsten Tagen zu arbeiten haben – und da ist es umso wichtiger, dass keine Missverständnisse auftreten.

Nach der kleinen Geburtstagsstärkung rollen wir schließlich ab und starten damit in den siebten Tag. Etwas dicker eingepackt sitzen wir heute auf unseren Plätzen, denn bereits am gestrigen Abend hat uns die Kälte nach den letzten so unerwartet warmen Tagen doch überrascht. Und da das heutige Ziel Nordkap heißt, ist es selbstverständlich, dass wir kleidungstechnisch schon einmal vorgesorgt haben. Doch schon nach wenigen Minuten halten wir an diesem Morgen früher als gewohnt an, um noch einige Umfragen durchzuführen – denn bald werden wir die Zivilisation verlassen.

Die Straßen werden immer schmaler und kurviger, das Gelände immer unzugänglicher – und den Ersten im Bus wird schon nach kurzer Zeit schlecht. Dank Reisetabletten halten wir aber alle, wenn auch teilweise etwas tablettenschläfrig, bis zum Endziel - unserem Hotel für die folgende Nacht, durch. Während der Busfahrt wird die Landschaft dokumentiert, die sich ununterbrochen ändert. Felsabhänge direkt neben weiten Wasserflächen, hier und da ein paar Pflanzen. Die Vegetation nimmt ab. Sporadisch lassen sich immer wieder kleinere Grasbüschel und weit verzweigte Bäume erkennen. Krüppelkiefern oder pinus mugo, wie das Flora, Fauna, Klima–Team des heutigen Tages feststellt. Im Zusammenspiel all dieser Faktoren ergibt sich ein schönes abwechslungsreiches Bild.

„Hier rechts! Ein See!“ die Flora, Fauna & Klimagruppe steht bereits an der Tür, bevor diese überhaupt geöffnet wird. Der Aqua-Untersuchungskasten wird mit nach draußen getragen. Nach dem ersten gescheiterten Versuch, eine Wasserprobe zu testen, geben wir schnell auf. Der Wind ist so stark, dass sogar die gefüllten Gläser vom Untersuchungstisch geweht werden. Wir entschließen uns dazu, eine Wasserprobe mitzunehmen und die Untersuchungsverfahren später an einem windstilleren Ort durchzuführen. Somit hat sich auch dieser Zwischenstopp gelohnt, vor allem, da kurz vor der Abfahrt Lars noch meint, eine Robbe gesehen zu haben – zumindest die Schnauze hat kurzzeitig aus dem Wasser geguckt – für ein Foto reicht es leider nicht mehr.

Den nächsten Halt auf der Strecke machen wir in Gjesuaer. Das Gebiet, das auf derselben geographischen Höhe liegt wie das Nordkap lässt erneut das Herz unserer Flora, Fauna, Klimagruppe schneller schlagen. Es wird von zahlreichen Vögeln, darunter Arten wie der Sturmvogel oder der Tölkel, als Nistplatz genutzt, wird als Lebensraum aber auch von Säugetieren wie der Kegelrobbe und dem Otter genutzt. Während das besagte Team die Vegetation und die hier lebenden Tiere bestaunt, sammeln die anderen fleißig Antworten zu ihren Umfragen. Dies ist unser letzter ganzer Tag in Norwegen, sodass wir heute umso intensiver an die Arbeit gehen.

Kaum sind wir alle eingestiegen und wieder losgefahren, müssen wir auch schon wieder bremsen. Rentiere versperren uns den Weg. Als sie bemerken, dass ein Fahrzeug naht, teilt sich ihre Gruppe. Ein paar gehen auf die rechte Seite, einige weichen auf die linke aus und ein einsames Rentier läuft stur mitten auf der Fahrbahn weiter. Rechts wird nun ein Rentiernachwuchs gesichtet, sodass die Schrittgeschwindigkeit, die uns das auf der Fahrbahn verbliebene Tier aufzwingt, sowieso angemessen ist. Sofort rennt alles, was eine Kamera zur Hand hat, an die rechte Fensterscheibe, um das davonrennende Junge mit seiner Mutter auf der Speicherkarte festzuhalten.

Wenig später sitzen alle wieder angeschnallt auf ihren Plätzen, doch das schneeweiße Rentier vor dem Bus möchte einfach nicht weichen. Wir geben ein bisschen mehr Gas. Schließlich gibt es nach, bewegt sich ein wenig nach rechts und wir können auf der linken Seite überholen. Rentiere begegnen uns noch ein paar Mal auf unserer Fahrt, ansonsten verläuft die kurvige Strecke jedoch ruhig. Nach einem ausnahmsweise sehr frühen Abendessen um 18 Uhr fahren wir schließlich zum Endziel des heutigen Tages – das Nordkap.

*Der nördlichste Punkt Europas*
Schnee wirbelt auf der trapezförmigen Leinwand auf. Die Landschaftsaufnahmen ziehen von links nach rechts an uns vorbei und wir sind froh, nicht im Winter hergekommen zu sein. Trotz der idyllischen Stimmung, die die weiße Schneedecke hervorruft, kann man sich doch vorstellen, wie warm man sich tatsächlich einpacken muss, um in dieser Jahreszeit hier nicht zu erfrieren. Wir jedoch sitzen im Warmen, während wir im Bauch des Nordkapzentrums den Vorstellungsfilm des Gebiets verfolgen. Der Mann auf der Leinwand steigt in sein Boot und kehrt die dicke Schneeschicht von Deck, bevor er zum frühmorgendlichen Fischen ablegt. Auch wir stehen auf, als der Abspann kommt und wollen nun endlich das Nordkap nicht nur visuell erleben, sondern tatsächlich mit eigenen Füßen betreten.

Endlich stehen wir vor der stählernen Weltkugel am nördlichsten Punkt Europas, 71°10‘21‘‘N, so fühlt es sich auch an. Der Wind macht das Atmen und auch das Unterhalten schwer und bereits nach wenigen Minuten hat ein Großteil von uns halb erfrorene Hände und eine rote Nase. Nach ein paar Fotos und Filmen flüchten wir uns ins warme Innere. Aufwärmen ist jetzt angesagt, denn das Posen im kurzärmlichen Master-Mint-T-Shirt hat doch länger gedauert als erwartet. Und auch im Inneren gibt es genug zu sehen. Ein Thai-Museum, eine Kapelle, eine Lichtershow und zahlreiche Informationswände und Videos laden zum längeren Verbleib im Gebäude ein.

*Doch was ist überhaupt das beeindruckende am Nordkap?*
Aufgrund der Neigung der Erdachse um 23,5° gegen die Senkrechte, die Schiefe der Ekliptik, und der Umlaufbahn der Erde um die Sonne in 365,25 Tagen, kommt es dazu, dass es an den Polarkreisen einmal im Jahr keine Nacht und einmal im Jahr keinen Tag gibt. Sprich, die Sonne geht entweder erst gar nicht auf, oder nicht unter. Am nördlichen Polarkreis, der bei 66°33‘ liegt, ist dies am 21. Juni der Fall. Mitternachtssonne wird dieses Ereignis genannt. Hier am Nordkap, der noch ein Stück weiter nördlich liegt, finden diese besonderen Zustände nicht nur an jeweils einem Tag im Jahr statt, sondern sind entsprechend ihrer stärker nördlichen Lage verlängert. 77 Tage lang, vom 15.Mai bis zum 31. Juli geht hier am Nordkap die Sonne nicht unter. Wir hatten unsere Ankunftszeit also perfekt geplant, um dieses Spektakel mitzuerleben. Aber selbst in der Dunkelperiode vom 19. November bis zum 23. Januar lohnt es sich, das Besucherzentrum aufzusuchen, denn in dieser Zeit lassen sich in der Dunkelheit die farbigen Nordlichter, aurora borealis besonders gut bewundern.

Aber nicht nur Naturspektakel und wissenschaftliche Erklärungen lassen sich am Nordkap finden. Auch für die Kunstbegeisterten ist gesorgt. Bereits 1988 fasste die Kunstidee „Kinder der Welt“ von Simon Flem Devold hier am Nordkap Fuß. Bei diesem Projekt wurden 7 Kinder aus der ganzen Welt zufällig herausgesucht, die an das Nordkap angeflogen wurden und frei Kunstwerke kreierten, die dort nun in großem Format zu bestaunen sind.

Neben Menschen genießen hier auch Ungeheuer und Monster die schönen Kunstwerke inmitten der Natur. Das wurde zumindest früher vermutet, als die Gebiete noch weitgehend unerforscht waren. Heutzutage ist jedoch nur noch von Trollen die Rede. Die kleinen buckligen Wesen mit ihren langen Nasen und den vielen Wanzen im Gesicht haben ihre Namen aus dem Nordgermanischen. Denn das Wort Troll heißt übersetzt so viel wie „Naturwesen“. Durch die nordische Mythologie sind sie in Schweden, Dänemark und Norwegen bekannt und es gibt zahlreiche Geschichten, die sich um die kleinen Fantasiefiguren ranken. Dass sie zum Kultsymbol Norwegens geworden sind, lässt sich in wirklich jedem Souvenirshop erkennen – sie stehen für die unberührte Natur und das freie Leben in ihrem Land.

Nachdem wir auch mit den Trollen genug Fotomaterial erzeugt und kurz vorm Einsteigen nochmals überprüft haben, ob auch niemand von dem starken Wind weggeweht worden ist, kehren wir ins Hotel zurück, um dort noch unsere Präsentationen des heutigen Tages zu halten. Wachbleiben fällt uns auch heute nicht schwer, denn glücklicherweise fällt der 3. Juni in die 77 Tage Periode, in der am Nordkap die Sonne nicht untergeht.

Autorin / Autor: Text und Fotos von Lilith - Stand: 30. Juni 2016