Kämpferherzen

Einsendung zum Wettbewerb #netzheldin von Flora und Paula, 12 Jahre

Ich starrte einen Moment in den Regen, als ich mich wieder umwandte, war ich allein. Allein mit dem Mann, der sich als ein Wut schnaubender Geschäftsinhaber heraus stellte. In dem Moment begriff ich, dass ich laufen musste, wie ich es schon so oft getan hatte. Laufen, wohin auch immer. Hauptsache weg von dem Kiosk und dem ganzen Schlamassel. Praktisch, dass mein Versteck in der Nähe lag. Ich lief durch den nicht enden wollenden Regen und dachte über die Gang nach. Keine Gang, die sich grundlos Gang nannte. Sandkastenfreunde waren wir jedenfalls nicht. Ärger mit der Polizei war nicht selten, weshalb ich mein Tempo nicht drosselte, im Gegenteil. Warum hatten sie mich stehen lassen? Ich bin der Boss.  Zuerst wollten Morten, Daniel, Justin und Timo mich einfach nicht akzeptieren. Okay, ich bin ein Mädchen. Aber gerade deswegen will ich der Welt beweisen, dass Mädchen keinesfalls schwächer sind als die Jungen.

Hastig stieß ich die morsche Holztür des mausgrauen Hauses auf und schlüpfte hinein. Der Putz bröckelte ab und die Tapeten hingen in Lappen von der Decke. Ich knipste die Lampe an, die erstaunlicherweise noch funktionierte. Was ich sah, war unmöglich: Schmutzige Fingerabdrücke auf dem Lichtschalter, ich betrachtete meine Hände. Kein Dreck! Auf der Hut schlich ich die Treppe hinauf und erblickte einen  Jungen.

Ich schätzte ihn auf ungefähr 14 Jahre, also etwas jünger als ich. Er hatte dunkles lockiges Haar und seine frechen grünen Augen waren von dunklen Augenringen umsäumt. Bei genauerem Hinsehen merkte ich, wie misstrauisch und verzweifelt er aussah. Er hatte Narben und Schürfwunden im Gesicht und an den starken Armen. Ich wollte nicht wissen, was er schon erlebt hatte, und zischte ihm ärgerlich zu: „Was machst du hier?“ Er schaute mich fragend an. Ich wollte eigentlich gar nicht so grob sein, aber loswerden wollte ich ihn auf alle Fälle. Ich zeigte auf die Treppe und forderte ihn auf zu gehen. Er nahm seine Decke und schulterte seinen Rucksack, eine Träne lief ihm über die Wange, die er sofort wieder weg wischte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und er zitterte vor Enttäuschung. Nun nahm ich ihn in den Arm. Während ich seine Wärme spürte, fühlte ich mich wie Frau Merkel mit dem Flüchtlingskind Reem. Doch ich entschied mich, nicht so zu  handeln wie sie, sondern nahm ihm seine Sachen ab und legte sie wieder auf den Boden. Ich wollte ihm eine Chance geben. „Hunger?“, erkundigte ich mich und strich als Geste über meinen Bauch. Er  nickte und ich machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Aber auf legalem Weg. Als ich die Straße entlang ging, hatte ich immer nur einen Gedanken im Kopf, der sich auch nicht so leicht wegschieben ließ. Was tue ich hier gerade? Ich hätte ihn einfach weg schicken müssen. Einfach? Vielleicht doch nicht so einfach. Ich habe ja schon genug Sorgen. Nervös spielte ich mit meinem Piercing an der Unterlippe. Wie sollte es weiter gehen? Doch dann war da das Bild vor mir, wie ihm diese eine Träne hinunter floss. Überglücklich verschlang er ein paar Brötchen, Käse, Obst und strahlte mich an, dann  brach er die Schokoladentafel und gab mir die Hälfte. Doch ich schüttelte lächelnd den Kopf. Teilen, wenn man solchen Hunger hat: Bei dem kann ich mir ordentlich was abgucken. Nachdem wir uns minutenlang ohne auch nur ein Wort zu sprechen, gegenüber saßen, erhob ich mich zum Gehen. Doch er hielt mich hilflos fest. Ich wandte mich zu ihm um und sagte: „Ich werde dir helfen!“ Er musste mich verstanden haben, denn nun ließ er mich gehen.

Ich kam jeden Tag nach der Schule zu ihm, aß mit ihm und brachte ihm Deutsch bei, sprechen und schreiben. Er hörte immer zu, sagte aber nicht viel und langsam vertraute ich ihm wie sonst keinem. Ohne es wirklich bemerkt zu haben, hatte ich mich verändert. Mein Piercing gefiel mir nicht mehr so wie früher und auch mit der Gang hatte ich mich nicht mehr getroffen. Er hatte sich nicht bei der Ausländerbehörde registriert und war nun illegal hier. Einen Moment lang kam mir ein komischer Gedanke.
Stapelweise Unterlagen mussten ausgefüllt werden. Post ging hin und her. Schließlich wurde er in eine Pflegefamilie verpflanzt. Aber er war jedoch nach wenigen Tagen wieder im Versteck. Und ich erfuhr endlich wie er hieß: Amir Fathi und kam aus Ägypten. Ich stutzte. Warum musste man aus Ägypten fliehen? Vorsichtig erkundigte ich mich, wie es zu seiner Flucht kam. Wo war seine Familie? Doch ich bekam nur wenige Worte aus ihm heraus. Am Ende stellte sich mit einer Internetrecherche und den zunehmenden Äußerungen Amirs heraus, dass er ein unakzeptierter Christ war und zu einer Minderheit in seinem Land gehörte. Er wurde verspottet, gedemütigt und sogar von seinem Lehrer geschlagen. Nun war der Trubel endlich wie ein Unwetter vorüber gezogen und das tägliche Besuchen war zum Alltag geworden. Wir hatten  immer viel Spaß und auch sein sehnlichster Wunsch wurde endgültig war. Amir lebte sich in der Schule gut ein und war zu meinem Bruder und Freund geworden. Andauernd wiederholte er das Wort „Ezbet“ und ich erfuhr, dass Ezbet ein Armenviertel in Kairo ist. Schreckliche Bilder mit verdreckten Hütten aus Pappe, Metallstücken und Ästen zusammen geflickt, waren das Ergebnis meiner Googlesuche. Tonnenweise Plastikmüll gaben mir das Gefühl auf einer Müllkippe gelandet zu sein. Das war doch kein Zuhause, kein Platz mit Geborgenheit und Lachen. Nein! Immer mehr konnte ich mir vorstellen wie ein Leben in diesem Dreck gewesen sein könnte. Ich begann ihn zu verstehen. Als plötzlich das Unmögliche möglich wurde: Er sollte abgeschoben werden. Einfach wieder aus Deutschland raus, wo er sich gerade etwas zurecht gefunden hatte. Wer konnte so etwas entscheiden, wenn er Amir gar nicht kannte? Eine so gewaltige feurige Wut packte mich, dass ich in Tränen ausbrach und Amir - so tapfer - versuchte mich nur zu beruhigen. Ich musste etwas tun, man konnte ihn, einen so besonderen, liebenswürdigen Jungen doch nicht zurück schicken. In das Land, was er zu fürchten begonnen hatte. Ich wollte nicht nachgeben. Endlich einmal wirklich etwas bewirken und ich hatte auch schon einen Plan. Das Internet, was doch immer als so gefährlich und grausam dargestellt wird, sollte mein Handlanger sein. Ich wollte Druck ausüben. Druck, der stärker sein würde als Angst. Ich plante eine Videobotschaft mit Amir und übte und übte. Amir wurde besser, als wüsste er um wie viel es ging. Und schließlich war sie auch schon im Netz. Er mit dem Blick nach unten gesenkt im grünen Sessel in meinem Zimmer. Obwohl ich die Geschichte von Ausgrenzung, Spott, Arbeitslosigkeit, Hunger und Verzweiflung schon kannte, musste ich meine Tränen zurück halten. Nun hieß es warten. Ich war niedergeschlagen. Bis jetzt hatten nur ein paar wenige mein Video gesehen. Und zwei Wochen waren schon vergangen. Die Zeit drängte. Nach weiteren Wochen sprachen mich meine Mitschüler auf das Video an. Wie ich es geschafft hätte, so einen Erfolg zu erzielen. Ich verstand nicht. Doch tatsächlich. Verschiedene Promis hatten mein Video auch bei sich gepostet, was mir gar nicht aufgefallen war. Der Druck stieg minütlich und nach einem Monat mussten auch die obersten Politiker Stellung zu meinem Video nehmen. Doch die Politiker blieben hart. Natürlich hatte ich einen riesigen Erfolg erzielt, aber ich wollte mich auch durchsetzen. Also legte ich noch einen drauf. Das Video, in dem er aufgelöst in Tränen ausbrach und darum bat, nicht wieder in Spott und Dreck zurückehren zu müssen. Und endlich hatten wir unseren Sieg. Wir, ein Flüchtling und ein Niemand gegen diese mächtige Welt.

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Autorin / Autor: von Flora und Paula, 12 Jahre