Das Cybermärchen vom kleinen Avatar

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Mareile (38)

Es war einmal ein kleiner Avatar. In der Gestalt eines gewöhnlichen Bücherwurms behauste er einen französischen Liebesroman. Er ernährte sich von poetischen Adjektiven, nistete sich im Herzen der weiblichen Hauptfigur ein und liebte es, durch die Wendungen und Wirren der tragischen Erzählung zu streifen. Eines Tages jedoch, machte er eine
ungemütliche Entdeckung: Eben als er sich anschickte eine leichte Magenverstimmung mit bitteren Nomen aus einem Eifersuchtsmonolog zu kurieren, stellte er fest, daß er denselben leider inzwischen ganz und gar vertilgt hatte. Sorgenvoll verzehrte er statt dessen das Happy End der Geschichte.

Dummerweise stellte sich alles was er von der Erzählung übrig gelassen hatte, als veraltet und ungeniessbar heraus. Beinahe wäre der Arme verhungert. In seiner Not fraß er sich durch den Klappentext. Der handelte von einem französichen Autor Namens Theophile Gautier.
Anscheinend war dieser Mann Schuld an der Situation des kleinen Avatars, denn er hatte ihn vor vielen Jahren in seinem Roman zitiert. Auch von den Vorfahren des kleinen Avatars war da die Rede:
"Seit Urzeiten war ihnen die Fähigkeit zu eigen, sich in fremden Welten zu materialisieren. Sie wirkten als Stellvertreter der alten Götter, denen sie zur Inkarnation im Diesseits die gewünschte Gestalt verliehen. Zum Dank schenkte ihnen Vishnu, der allgestaltige Hindugott, den Namen: "Avatare" aus dem heiligen Sanskrit: "Die Herabsteigenden" fraß der kleine Avatar.
Nachdem er diese Informationen verdaut hatte, klopfte er mutig von innen an den Buchdeckel. Ehrlich gesagt, blieb ihm auch keine andere Wahl. Er wäre sonst wohl verhungert.

Es trug sich aber zu, dass der Roman soeben in die Hände eines schlauen Mathematikers geraten war. Seine Großtante hatte ihm das alte Buch mit der Warnung: "Vorsicht vor dem Bücherwurm" vermacht. Deswegen war der schlaue Mathematiker auch nicht ganz so überrascht, als er das ausgehungerte Kerlchen aus dem leergefressenen Machwerk befreite. (Seine Großtante war ihm immer schon etwas unheimlich gewesen).
Die beiden wurden schnell dicke Freunde. Übergangsweise kaufte der Mathematiker einen Stapel Liebesromane im Kiosk gegenüber, die der Avatar dankbar verschlang. Wie man sich denken kann, holte er sich eine gründliche Magenverstimmung. Besorgt probierte der Mathematiker es mit allem, was er zu bieten hatte, aber weder mathematische Fachliteratur noch Kochbücher,
politische Pamplethe, gesammelte Werke von Diesem oder Jenem, noch die heilige Schrift, die er zuletzt in seinem Nachttischschränkchen fand, schienen dem kleinen Wesen zu bekommen. Lediglich an einem Supermancomic nagte der Arme, der täglich dünner und durchsichtiger zu werden schien.
Doch der schlaue Mathematiker wäre kein schlauer Mathematiker gewesen, wenn ihm zu diesem Problem keine Lösung eingefallen wäre. Und da minus mal minus plus ergibt, zählte er eins und eins zusammen und machte dem kleinen Avatar einen folgenschweren Vorschlag:
er zeigte ihm einen blau schimmernden Kasten. Den Eingang in die neue Welt. Und der kleine Avatar fasste sich ein Herz: In der graphischen Gestalt eines Superhelden, die muskelbepackten Oberarme siegessicher in den Orbit gereckt, bohrte er sich unter Anleitung seines schlauen Freundes in die Virtualität.

Der Genuss komplexer Daten lies ihn bald auf das Beste genesen.
Er begann sogar, sich zu vermehren. Vergnügt hüpfte er von Level zu Level, lieferte sich Schlachten mit seinen gefährlichsten und bösartigsten Inkarnationen und verliebte sich in eine wunderschöne weibliche Version seiner selbst.
Seine Art wuchs bald zu einem vielbeschäftigten Algorithmus heran. Frei, wild und bunt tobten sie durch die Datenströhme.

Am lustigsten trieb es der kleine Avatar. So wild tobte er durch das Netz, dass er nicht gewahr wurde, wie er den Kontakt zu seinem Freund und User, dem schlauen Mathematiker verlor.
Und das, obwohl er doch zweifelsfrei ohne seine Hilfe verhungert wäre. Nun trudelte der Übermütige ohne Freund und Auftrag durch die weite virtuelle Welt. Und es überkam ihn eine Einsamkeit, so groß wie er vielgestaltig war.
"Ach", sprach er da wohl bei sich, "wo soll ich armer Avatar nun hin?" Und er weinte gar manche, bittere Träne. Aber alles Jammern war vergebens. Er fand den Freund nicht wieder.
Und so blieb ihm nichts, als sich auf die Suche nach einer neuen Heimat aufzumachen.
Wie sehnte er sich da in Theophiles Roman zurück.
Weidwund irrte der kleine Avatar durch den kalten Zahlenraum auf der Suche nach ein paar poetischen Adjektiven und dem Herzen irgendeiner unglücklicken Hauptdarstellerin um sich dort einzunisten und zu nähren.
Er folgte verschlungenen Pfaden, begegnete gefährlichen Riesenhoaxen, Trollen und Vieren, ernährte sich von Spam, fragte sich durch Chatforen, forschte bei Wikipedia nach, sogar das Tor zum Darknet passierte der Arme.
Es war einerlei: Im Internet fehlte es an Poesie!

Entmutigt warb der kleine Avatar als Söldner bei Facebook an. Zusammen mit anderen Halbavataren und Pseudoidentitäten musste er dort Biographien schmücken und Gesichter mehr erzählen lassen, als ihm lieb war.
Wie es aber nun der Zufall (oder ein anderer mächtiger Algorythmus) wollte, entdeckte ihn dort eine unbekannte Autorin.
"Ei," sprach sie, "warum schaust Du denn so traurig drein und zu wem gehörst du denn
überhaupt?" Und so kam es, dass der Avatar ihr sein Herzeleid anvertraute. Da ward dem Unglücklichen
geholfen. Die Autorin nämlich, hatte folgende Idee: Sie lud den kleinen Avatar zur poetischen Reinkarnation auf ihren Blog ein. Dort veröffentlichte sie ihre Kurzgeschichten, die dem Kleinen fortan Spielraum und Nahrung
boten.
Und der kleine Avatar nahm die Einladung an. Seit diesem Tage aber, nannte er sich "poetischer Avatar". Denn klein war er eh' schon lange nicht mehr.
(Und das Gute an diesem Märchen ist, dass es ganz und gar wahr ist).

Autorin / Autor: Mareile