Leben ohne Technik

Beitrag zum Schreibwettbewerb "Total digital" von Nadine, 16 Jahre

Meine Mutter erzählte mir viel von früher. Von den Dunklen Tagen. Von dem Dritten Weltkrieg, den kaum einer überlebt hatte. Die Menschen haben nur ihre Maschinen und ihre Technik für sich denken lassen, statt selbst ihr Hirn zu verwenden, pflegte meine Mutter zu sagen.
Sie waren zu abhängig. Und als alles, ihre ganzen Systeme, ihre Computer, ihre Technik, einfach alles auf einen Schlag zerstört wurde, waren sie unfähig. Sie wussten nicht, wie man ohne Technik und ohne Strom überlebte. Der Bezug zur Natur war vollends verschwunden und die meisten verdursteten oder verhungerten, wenn sie nicht schon in einem Kampf mit den anderen Überlebenden gestorben waren. Die Menschen hatten kein Herz, sagte meine Mutter. Sie hatten alles zerstört. Die Natur und vor allem sich selbst. Sie hatten gewusst, was sie taten, aber sie hatten nie an die Zukunft gedacht. Sie hatten nie an diejenigen gedacht, die nach ihnen kamen. Sie haben nie an uns, ihre Kinder und Enkel gedacht.
Die Menschen waren dumm, war einer der Lieblingssätze meiner Mutter. Sie waren so dumm, der Technik mehr zu trauen, als den Menschen.
In unserem Leben sah es ganz anders aus. Wir lebten in kleinen Gemeinden, in denen jede Familie ein Haus und eigenes Stück Land besaß. Nachdem ein Großteil der gesamten Bevölkerung während des Krieges gestorben war, gab es genug für jeden. Es gab genug, Platz, genug Wasser und genug Nahrung. Zumindest in unserer Gegend war es so. Wir wussten nicht, wie die Situation auf der anderen Seite des Erdballs aussah. Meine Mutter vermutete, dass dort alle tot waren. Und falls nicht, werden sie bei all diesen Giften so wieso nicht mehr lange leben, spottete meine Mutter gerne.
Als ich sie fragte, ob die Menschen früher mit ihrer Technik gewusst hätten, was auf den anderen Kontinenten und in den ferneren Ländern passierte, antwortete sie: Ja, die Technik wusste alles. Die Technik war das mächtigste Werkzeug der Menschen. Es war selbst für die Menschen zu mächtig. Es hat sie in einen tiefen Abgrund gerissen, aus dem kaum einer wieder herauskam.
Für mich war es undenkbar, dass irgendwo dort draußen noch Menschen lebten. Wir hatten hier unser eigenes Universum. Alles andere war tot, kahl und verseucht.
Doch wir Frauen blieben ohnehin Zuhause. Es war gefährlich dort draußen. Vater sagte immer, wir Frauen könnten mit den Tieren dort nicht umgehen. Die schrecklichen Kreaturen, die den Krieg der Menschen überlebt hatten, waren meist Mutationen. Wesen, die die Natur nie so gewollt hätte.
Die jungen und gesunden Männer unserer Gemeinde gingen auf die Jagd und pflegten die Felder, während die älteren und schwachen suchten. Sie verschwanden in Gruppen da draußen in der Welt und suchten nach brauchbarem Material. Meine Mutter meinte, die Menschen früher wären nie zu Fuß gegangen, so wie unsere Männer heute. Sie hätten sich alles, was sie brauchen mit einer Drohne schicken lassen oder sie hätten sich in ihre technischen Ungetüme gesetzt und unsere Welt damit noch mehr zerstört.
Manchmal kamen unsere Suchtrupps mit Dingen zurück, die wir wirklich gebrauchen konnten. Streichhölzern, Kerzen, Brennholz, Decken oder Kleidern, aber meistens kehrten sie nur mit unbrauchbarem Schrott oder leeren Händen zurück.
Die Sucher wussten, dass sie dort draußen sterben würden, aber es machte sie stolz. Keiner wollte hier krank im Bett liegen und die anderen belasten, jeder wollte bis zum Schluss alles für die Gemeinde tun. Manche Frauen wollten mit den Suchtrupps gehen, aber sie durften es nicht. Die Männer waren für die körperliche, anstrenge Arbeit zuständig, die Frauen für das Haus, die Kinder und die Bildung. Die Männer brachten ihren Söhnen das Jagen und das Pflügen bei, die Frauen lehrten ihren Töchtern das Kochen, das Lagern von Lebensmitteln, das Aufziehen von Nachwuchs und das Lesen, Rechnen und Schreiben. Kein Mädchen konnte jagen und kein Junge lesen. Das war in unserer Gemeinde so. Die Menschen früher konnten nicht mehr mit der Hand schreiben, beschwerte meine Mutter sich oft. Sie hatten ihre Computer, in die sie alles eingaben und keiner von ihnen war mehr fähig, ordentliche Buchstaben aufs Papier zu bekommen. Das Lesen und Schreiben war von so großer Bedeutung, weil wir alles festhalten mussten. All unsere Erkenntnisse mussten für die Generationen nach uns aufgeschrieben werden. Damals vor dem Dritten Weltkrieg wussten die Menschen solche Erkenntnisse nicht zu schätzen. Statt sich weiterzubilden, dachten sie sich Dinge aus. Meine Mutter nannte das Unterhaltung. Sie sprach das Wort immerzu mit einer Abscheu aus, die mir klar machte, dass sie die Menschen blind gemacht hatte. Als meine Mutter mir erklärt hatte, was ein Fernseher war, hatte ich nur ungläubig den Kopf geschüttelt. Die Menschen hatten eine Technik erfunden, mit der sie sich stundenlang andere Menschen anschauen konnten!
Die Welt war eine schlechte, schimpfte meine Mutter. Alle wollten immer mehr, wollten zu viel. Wollten Dinge, die sie nie haben konnten. Sie waren gierig. Rücksichtslos. Und gleichzeitig so dumm, dass sie alles der Technik überließen. Wir machen es besser, sagte meine Mutter.
Bei uns in der Gemeinde wurde alles getauscht oder verschenkt. Meine Mutter erzählte mir eines Abends von dem Geld. Ich fand die Vorstellung schrecklich, alles mit Papier oder Metallklumpen zu zahlen. Zumindest war das ganz früher so gewesen. Denn knapp vor dem Krieg hatte es das Geld nur noch in den Computern und in den anderen Geräten der Menschen gegeben. Die Leute waren süchtig danach. Sie konnten nie genug davon haben. Selbst die, die reich waren und sich alles kaufen konnten, wollten noch mehr. Hätten die Reichen den Armen etwas geschenkt, hätte es gar kein arm und reich gegeben.
Es fiel mir so schwer, diese Menschen zu verstehen. Sie waren verrückt, meinte meine Mutter nur dazu. Sie waren komplett verrückt. Keiner wusste, was er tat, aber alle taten es. Und jeder kümmerte sich nur um sich. Auch in den Familien ging man sich aus dem Weg. Die Familie, wie ich sie kannte, hatte es damals nicht gegeben. Jeder hatte Angst um sich selbst, da war kein Platz für andere. Die Menschen hatten einander betrogen und belogen. Es musste schrecklich gewesen sein, in einer solchen Welt zu leben.
Aber was meine Mutter am meisten verteufelte, war dieses „Internet“. Es hat das Leben so vieler Menschen zerstört, sagte sie. Die Menschen fühlten sich dadurch einander verbundener, aber in Wahrheit schaffte das Internet eine immer größere Distanz.
Die Menschen konnten nicht mehr ohne ihre technischen Geräte und dieses Internet leben, weil sie süchtig danach waren. Ihr ganzes Leben, alles was sie taten, war in irgendeiner Weise mit der Technik verbunden. Ein Leben, wie wir es jetzt führten, wäre für sie vollkommen unvorstellbar. Sie würden denken, ohne Technik könnte man kein zufriedenes Leben führen. Sie würden denken, die Menschen hätten sich zurückentwickelt.
Aber das ist nicht wahr, denn manchmal ist ein kleiner Rückschritt ein großer Fortschritt.

Autorin / Autor: Nadine, 16 Jahre