Anamorphose

Seltsam war wohl das treffendste Wort, mit dem man ihn beschreiben konnte. Seltsam, merkwürdig, skurril oder auch einfach anders.

Seltsam war wohl das treffendste Wort, mit dem man ihn beschreiben konnte. Seltsam, merkwürdig, skurril oder auch einfach anders. Er passte sich keinem bestimmten Muster an, lief in die andere Richtung. Den Kopf erhoben und sich dessen sicher, was er tat. Manchmal sah ich ihn, jetzt, wo Sommerferien waren und wir alle mehr Zeit hatten als sonst. Abends, wenn die müde Sonne den Himmel in warmen Farben bemalte und Wolken wie Ascheflocken am Himmel trieben. Wenn ich von Freunden zurückkam oder aus dem Theater, die Hände noch ganz bunt vom Bemalen der Kulissen. Dann lag er auf dem Kopfsteinpflaster vor seinem Haus und hatte Kopfhörer auf. Er starrte einfach so in den Himmel, betrachtete das Spektakel der nahenden Nacht und badete im Sommerwind. Immer rief ich ihm einen verhaltenen Gruß zu und fuhr schnell weiter. Dann hob er träge eine Hand und winkte, ohne mich anzusehen. Er kannte meine Stimme bereits.

Ich hatte Angst

Obwohl ich mir jedes Mal vornahm anzuhalten und mit ihm ein paar belanglose Worte zu wechseln, an die ich mich später nicht mehr erinnern würde, fuhr ich vor ihm davon. Ich hatte Angst. Oder so etwas Ähnliches. Wie alle anderen. In meiner Klasse hatten sie sich entschlossen, ihn nicht mehr zu beachten. Er war nicht mehr als ein Fremder für sie, ein Unbekannter seit zwei Jahren. Da war er hierher gezogen, mit seiner Tante. Ich hatte ihn nicht bemerkt, da ich, wie wir alle, wie jeder einzelne Jugendliche dieses Dorfes, zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt war. Lächerliche, unwichtige Probleme - doch offenbar groß genug, um ihn nicht wahrzunehmen. Es war eine schlechte Ausrede, das wussten wir alle. Und nach zwei Jahren war es einfach so geblieben. Niemand bemühte sich, ihn anzusprechen und das bleierne Schweigen zu brechen. Und ganz im Gegensatz zu unseren Erwartungen machte es ihm wenig aus. Er lächelte jedem von uns zu und verlangte nicht einmal ein schwaches Zucken der Mundwinkel zurück. Der Fremde nahm es so hin.

Ein ganz normaler Jugendlicher?

Der Fremde hieß Leonard. Leonard war sechzehn so wie wir alle. Er spielte Fußball, wie fast jeder Junge des Dorfes. Er liebte Placebo, so wie ich. Seine Kleidung war die eines normalen Jugendlichen. Seine Augen moosfarben, die Haare braun. Leonard war wie jeder andere auch, und doch verbat es unsere angebliche Vernunft mit ihm zu sprechen. Weil er seltsam war, ein seltsamer Junge, der lachte, wenn es nicht lustig war und den Kopf nicht betrübt senkte, wenn es alle anderen taten. Er schien nicht extra so zu sein, er war es einfach und das machte ihn so abnorm. Niemand wollte ihn zum Freund, weil einem in seiner Nähe die Sätze entfielen, weil man sich dumm vorkam und unwissend. Auch das war ein Grund des Schweigens. Wenn er sprach, war es weise, klang gewählter als unsere geliebte Umgangssprache und hatte insgesamt viel mehr Stil. Wie ein alter Mann im Körper eines Jugendlichen. Sie begannen merkwürdige Sachen über ihn zu erzählen. Er säße manchmal an seinem Fenster und fing die Nachtfalter ein, um sie in einem Glas einzusperren und an sein Bett zu stellen. Er redete auch mit sich selbst und streifte in der Dunkelheit barfuß durch die Straßen. Niemand mochte ihn wirklich. Leonard war verboten.

Mir ging es gut, ich hatte Musik in den Ohren und in mir drin

Heute war wieder so ein Tag. Es war noch warm, der Asphalt spendete seine restliche Hitze der abgasgetränkten Luft, und ich fuhr freihändig durch die Straße, in die er wohnte. Mir ging es gut, ich hatte Musik in den Ohren und in mir drin, und es war solch ein Abend, an dem ich mein Leben liebte, so wie es war. Am liebsten hätte ich laut mitgesungen, hätte ich den Text gekonnt. Stattdessen spürte ich ein Lächeln auf meinen Lippen. Der Wind schlug mir die Haare aus dem Gesicht und ließ sie hinter mit herzüngeln wie ein Feuerschweif.

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Autorin / Autor: mondkind - Stand: 10. Februar 2009