... Und es geht weiter!
Manchmal dachte Enya, unmittelbar nach ihrer Geburt hatte ihr irgendjemand mit wasser- und wetterfestem Stift auf die Stirn geschrieben: Hallo! Ich bin die absolute Versagerin. Jeder darf mich ärgern, so viel er will- alles ohne Gebühr!
Eine Voraussetzung dafür war ihr Aussehen, wie sie immer meinte. Sie war ziemlich klein (viele hielten sie für wesentlich jünger als vierzehn Jahre) und hatte dunkelbraune krause Haare, die sich nicht kämmen ließen und in alle Richtungen abstanden. Oft hörte sie in der Schule solche Sprüche wie „Du siehst aus wie ein zerrupftes Sofakissen!“ oder „Ist heute Morgen dein Föhn nach dem Haarewaschen explodiert?“.
Und dann gab es noch das Problem mit ihrem Namen, Enya. Wer wollte denn schon so heißen? Es gab eine Unmenge anderer Namen und sie wünschte sich sehnlichst, einen von ihnen zu tragen, so wie alle anderen in ihrer Klasse.
Enya schüttelte enttäuscht den Kopf und schaute auf ihre Füße, die von ihrem Bett herunterbaumelten. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Zehn vor vier. Hausaufgaben hatte sie schon gemacht, denn sie hatte nach der sechsten Stunde Schulschluss gehabt, aber was nun?
Sich mit ihrer Cousine treffen konnte sie nicht, denn sie war letzte Woche weggezogen. Ihre Mutter war arbeiten und ihr Vater machte Erledigungen. Beide würden erst in einigen Stunden zuhause sein. Und Freundinnen, mit denen sie sich treffen wollte, hatte Enya nicht.
Na super. Willst du dich nun den restlichen Tag langweilen?, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie beschloss, aus ihrem Zimmer zu gehen.
Während sie die Tür öffnete und heraustrat, merkte Enya, dass ein schmaler Lichtstrahl vom Zimmer ihrer Schwester auf den Flur fiel. Sie steckte ihren Kopf zwischen Tür und Türrahmen und sah nach, ob ihr nicht zufälligerweise auch langweilig war.
„Viola? Was machst du gerade?“, fragte Enya und öffnete die Tür nun ganz.
Viola lag mit geschlossenen Augen auf ihrem Bett, dessen Bezug grau gemustert war und perfekt zu ihrer grimmigen Miene passte. In ihren Ohren steckten Kopfhörer.
„Musik hören“, vernahm Enya ihre Schwester lustlos brabbeln.
Enya seufzte. Viola war achtzehn Jahre alt. „Ein schwieriges Alter“, wie es ihre Eltern beschrieben. Und ziemlich passend, wie Enya fand. Denn stundenlang stand sie vor dem Spiegel, suchte nach Pickeln und schminkte und bepuderte sich das gesamte Gesicht. Ihre rostbraunen Haare, die ohnehin schon aalglatt waren, musste sie sich natürlich auch jeden Morgen glätten. Es war ein Wunder, dass sie miteinander verwandt waren, denn sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich.
„Aber mir ist langweilig!“, versuchte sie es mit einem weiteren Anlauf.
„Dann sieh dir einen Film an. Oder lese ein Buch“, erwiderte Viola in gleichgültigem Ton und öffnete langsam ein Auge.
Enya seufzte noch einmal und ließ ihre Finger auf den Türrahmen trommeln: „Aber ich kann den DVD-Rekorder nicht bedienen. Und meine neuen Bücher habe ich bereits ausgelesen.“
Viola öffnete stöhnend das bisher geschlossene Auge. Kurzerhand stand die 18-Jährige auf, nahm ihre Ohrstöpsel heraus und legte sie samt MP3-Player auf ihren Nachttisch. Denn eines wusste sie ganz genau: Wenn Enya langweilig war, belästigte sie ihre größere Schwester ununterbrochen, möglicherweise sogar den gesamten Nachmittag.
„Na gut“, murrte sie, „dann schauen wir uns eben gemeinsam einen Film an.“ Sie warf Enya einen kurzen Blick aus Augenschlitzen zu und ergänzte schnell: „Aber ich darf entscheiden, welchen!“
Und so saßen sie fünf Minuten später eine Etage tiefer auf ihrem gemütlichen Sofa und schauten sich den Herr der Ringe an- unter der Bedingung, dass sie ihn nur zur Hälfte und am nächsten Tag zu Ende sehen würden.
Es vergingen nur anderthalb Stunden, dann saß Enya wieder allein in ihrem Zimmer.
Der Tag zieht sich in die Länge wie ein Kaugummi, dachte sie ärgerlich.
Ohne weiter darüber nachzudenken, nahm sie sich einen Block und einen Stift zur Hand, beugte sich im Schein ihrer Schreibtischlampe über ein Blatt Papier und begann, zu zeichnen.
Ein schuppiger, schlangenartiger Körper, zwei kräftige Flügel, vier mit langen Krallen besetzte Klauen, eine entstehende Feuerfontäne, die gerade sichtbar dem geöffneten Maul entwich.
Wie bin ich überhaupt dazu gekommen, einen Drachen zu zeichnen?, fragte sie sich in Gedanken.
Sie ignorierte die Frage und kolorierte ihn kurzerhand. Die Schattierungen ließ sie nicht aus, und den wachen Augen gab Enya ein Leuchten, so dass es schien, als wäre er lebendig und als würde sie den giftigen Atem aus seinen geblähten Nüstern zu spüren bekommen. Dann hielt sie inne.
Moment mal… Ich und ein Drache? Enya, das denkst du doch nicht im Ernst, oder?, wies sie sich in Gedanken zurecht. Du bist der Schultrottel, nicht irgendein majestätischer Drache!
Sie schaute wütend auf das Bild. Für einen Moment schielte Enya böse auf den Papierkorb, der unter dem Schreibtisch vor sich hin schlummerte, und war kurz davor, die Zeichnung wegzuwerfen.
Doch dann hielt sie inne.
Sie riss das Blatt behutsam vom Block und machte es vorsichtig, damit es ja nicht zerknitterte, an der Pinnwand über ihrem Schreibtisch fest. Eigentlich ist es doch ganz hübsch. Und Träumen ist nicht verboten.
Sie ließ sich aufs Bett fallen und wartete darauf, dass ihre Mutter nach Hause kam und sie zum Abendessen rief.
Nur die kleine, runde Gestalt vor ihrem Fenster, die erleichtert ausatmete, bemerkte sie nicht. Aber das ließ nicht mehr lange auf sich warten.