Wo alles beginnt...
Dragosia ist eine Art zu denken und zu leben nach Ann Halam, Siberia
Helles Mondlicht ergoss sich über den magischen Wald und tauchte ihn in glänzendes Silber. Ein rauer Wind fuhr durch die Äste der Bäume und ließ sie in der Stille ächzen, die violett glänzenden Blätter rauschten in der Brise. Dunkle Wolken brauten sich am schwarzen Himmel zusammen. Ein Sturm zog auf.
Plötzlich erfüllte eine Stimme, tief wie ein Donnergrollen, den gesamten Wald. Sie gehörte einem Wesen, das nur in Sagen und Legenden erwähnt wird. Einem Drachen.
Er war prachtvoll. Im Schein des Mondes wirkten seine goldenen, funkelnden Schuppen silbern, seine Mähne glitzerte in allerlei Bronzetönen. Doch das Erstaunlichste waren seine Augen: Sie waren grau und erinnerten an Platin. Und sie strahlten solch eine Weisheit aus, dass jeder König vor Scham im Boden versinken würde.
Sein Körper war schlank und hatte Ähnlichkeit mit einem Aal. Auf seinem Rücken saßen zwei Flügel von der Farbe eines rubinroten Diamanten. Er besaß kurze, stämmige Beine. Die Klauen waren mit funkelnden Krallen versehen, die das Mondlicht reflektierten.
Sein Blick lag gelassen auf seinen Genossen. Er vernahm jede Bewegung der schuppigen Leiber. Es waren ebenfalls Drachen -smaragdgrüne, saphirblaue, in etlichen Farben gab es sie-, die mit in der Dunkelheit leuchtenden Augen und erwartungsvollen Gesichtern den edlen Drachen betrachteten.
„Meine lieben Drachen“, hob er an. „Ihr habt mich vor vielen Jahren als euren Obersten Berater auserkoren. Ich möchte mich für all die Jahre des gegenseitigen Vertrauens bei euch bedanken“, fuhr er fort. „Vermutlich habt ihr mich aufgrund meiner Fähigkeiten gewählt. Denn nur ich besitze die Macht der Elemente; ich beherrsche das Wasser und das Feuer und kenne mich gleichermaßen in den Lüften und auf der Erde aus. Damit trage ich eine schwere Last.
Außerdem besitze ich die Gabe der guten Zauberkünste. Anders als die Hexe Amariter, die uns schon seit einem Jahr Verderben bringt.“ Er sprach den Namen so verachtend aus, als würde er am liebsten Scheusal sagen.
„Aber das ist nicht der Grund, warum ich eine Versammlung einberufen habe. Es geht um die Menschen. Wie ihr wisst, haben sie schon zwei von uns im letzten Jahr getötet.“ Ein Knurren mischte sich in seine dunkle Stimme. „Wir haben die Leichen bei der Drachenstatue verbrannt. Wir erscheinen den Menschen gefährlich; sie fürchten, dass wir ihre Behausungen und Felder verwüsten und ihre Kinder stehlen. Was wir, wie wir alle wissen, niemals wagen würden. Aber die Menschen sehen, was sie sehen wollen. Was anders und fremd ist, wird verklärt und als gefährlich dargestellt. Und deshalb versuchen sie, uns zu vernichten und unsereinen für immer von der Erde zu tilgen. Sie würden es schaffen. Sie besitzen Fackeln und Speere, und wer weiß, was sie sonst noch alles haben und haben werden. Die Menschen sind unberechenbar. In vielen Jahrhunderten wird es soweit kommen, dass sie sich selbst vernichten werden, und ihre Welt, und damit auch die unsere, wird mit ihnen untergehen. Sie sind das vermutlich gefährlichste Tier dieser Erde.“
Er machte eine Pause und ließ den Blick über seine zahlreichen Gefährten schweifen.
„Ich gebe euch hiermit ein Versprechen. Ein Versprechen, das ich halten werde, darauf gebe ich mein Wort. Es wird der Tag kommen, an dem ich dafür sorgen werde, dass die Menschen besonnen und Amariter vernichtet wird. Damit werde ich meine Schuld begleichen.“
In der Senke unterhalb des Felsens, auf dem sich Drago befand, brach angesichts seines letzten Satzes Unruhe unter den Drachen aus. Die in der Dunkelheit leuchtenden Augen richteten sich ängstlich auf ihren edlen Obersten Berater.
„Ja, ihr habt richtig gehört“, erklärte Drago unbeirrt. „Ich muss eine folgenschwere Entscheidung treffen, die euer gesamtes restliches Leben verändern wird.“ Er sah in den dunklen, aufgewühlten Himmel. Tiefe Trauer trübte seinen Blick.
„Ihr könnt eure Gestalt verändern, euch in andere Geschöpfe verwandeln. Nun müsst ihr diese Gabe anwenden. Um euer gesamtes restliches Leben nicht mehr als Drachen zu verbringen, sondern als…“ Er verstummte und räusperte sich kurz; der Schmerz zeigte sich deutlich in seinen Gesichtszügen ab.
Zunächst war es bedrohlich ruhig, dann meldeten sich erste Stimmen zu Wort. „Als was? Sag es, Drago!“, drängten ihn die anderen mit weit aufgerissenen Augen.
„Als… Menschen.“
Für einen Augenblick herrschte solch eine Stille, dass man das Pfeifen des Windes vernahm. Ein Blitz erhellte die entsetzten Gesichter der Drachen.
„Ihr habt keine Wahl. Ihr werdet euch unter sie mischen, und sie werden euch nicht als Drachen erkennen, sondern als die ihren. Sie werden euch nicht mehr töten.“ Er setzte eine Pause.
„Ihr werdet unter ihnen leben und Nachkommen in die Welt setzen. Die Jahre werden vergehen und eine Generation wird die andere ablösen, und eines Tages werden eure Nachkommen vergessen haben, dass sie von Drachenblute sind.“
Es gab keine Protestrufe. Nicht mehr. Sie alle hatten Vertrauen in ihren weisen Obersten Berater und wussten, dass es keinen anderen Ausweg gab. Stumm lauschten sie seinen vermutlich letzten offiziellen Worten, die den Lauf ihrer Geschichte verändern würden.
„Liebe Drachen, eines Tages wird die Existenz unserer Spezies nur noch ein Mythos sein. Man wird uns vergessen wie ein welkes Blatt, das allmählich am Boden verrottet.“