Bühne statt Klassenzimmer

Was kann Kunst, was Schule nicht kann?

Kann man auf der Bühne mehr lernen als im Unterricht?
Was haben KünstlerInnen, was LehrerInnen nicht haben?
Was kann Kunst, was die Sozialarbeit nicht kann?
Welche Rolle spielt Kunst in einer multikulturellen Gesellschaft, die auf dem Weg zur Globalisierung ist?

Diese und ähnliche Fragen waren Grundlage einer Tagung, die kürzlich im Dramatischen Zentrum in Bonn erörtert wurden. VertreterInnen aus Gesellschaft, Politik, Kunst und Schule waren dort anwesend, um sich über die Rolle der Kunst in sozialen Zusammenhängen und in der Schul- und Jugendkultur Gedanken zu machen. Der Titel der Veranstaltung lautete "Relevance" in Anlehnung an den Theateransatz des indischen Theatermachers Manjul Bharadwaj: "Theatre of Relevance". Das "Theatre of Relevance" ist ein Projekt der Experimental Theatre Foundation ETF in Indien, das gegen Unterdrückung und wirtschaftliche Ausbeutung vorgeht, speziell gegen Kinderarbeit. Und das mit künstlerischen Mitteln. Herr Bhardwaj hat ein Verfahren entwickelt, um Kinder aus Zwangs-Arbeitsverhältnissen zu befreien, indem er pädagogische, künstlerische und politische Methoden verbindet. Er führt Theaterprojekte mit Kindern durch und stärkt dadurch nicht nur ihren Selbstwert, sondern hilft ihnen und ihren Eltern mit den finanziellen Einnahmen aus den Theateraufführungen, die Kinder aus der Kinderarbeit herauszuführen, bis sie die Schule besuchen können. Außerdem macht er politische Überzeugungsarbeit bei ArbeitgeberInnen. Dieser künstlerische Ansatz, der Kunst nicht als Selbstzweck sieht, sondern die Gesellschaft verändern hilft, stand im Mittelpunkt eben dieses Symposions in Bonn. Und vor allem ging es dabei um die künstlerische Arbeit mit Jugendlichen.

*Rhythm is it*
Viele von euch haben sicher den Film "Rhythm is it" gesehen, der in wunderschönen Bildern die Arbeit von MusikerInnen und ChoreographInnen mit Kindern und Jugendlichen beschreibt, die aufgrund ihrer Herkunft aus armen Verhältnissen eigentlich kaum Zugang zur "großen Kunst" haben. Dieser Film bewegt die Gemüter, weil er zeigt, wie sehr Kunst die Menschen zum Wachsen bringen kann. Könnte Kunst demnach mehr werden als ein vergessenes Schulfach, dass niemand so richtig ernst nimmt? Und was ist mit dem Begriff Kultur? Insbesondere Multikultur? Der Begriff ist ja wieder sehr ins Kreuzfeuer der Mediengesellschaft geraten und wird zunehmend zum Schimpfwort. Die multikulturelle Gesellschaft sei gescheitert, es müsse eine deutsche "Leitkultur" her, rufen nicht nur die Leute von rechts, sondern mittlerweile auch andere. Auch die Eingliederung der hier lebenden EinwandererInnen sei misslungen, und das läge nicht zuletzt an ihrem mangelnden Integrationswillen. Gefährliche Meinungen machen sich da breit, die hoffentlich nicht zu einer ähnlichen Katastrophe führen wie in den Niederlanden, wo nach dem Mord an dem niederländischen Filmemacher Van Gogh eine antimuslimische Gewalttätigkeit ausgebrochen ist, die man dem liberalen Nachbarland niemals zugetraut hätte.

*Wer hat was davon?*
Besonders nach der PISA-Diskussion werden neue Lern- und Lehrkonzepte verlangt, aber wie kann man Wissen am besten vermitteln? Und wie kann man Werte vermitteln? Und wie Kultur? Immer mehr Schulen öffnen sich und arbeiten mit Theaterleuten zusammen. An vielen Schulen gibt es sogar inzwischen Theater als Schulfach. Was bringt das und wer profitiert davon? Eigentlich alle: Die SchülerInnen, die Kunst nicht als außerhalb von ihrer Welt erleben, sondern als etwas, was sie selbst gestalten können. Die LehrerInnen, die endlich mal die Rolle der WissenvermittlerInnen und Disziplin-EinfordererInnen ablegen können und die KünstlerInnen, die Input, neue Ideen für ihre künstlerische Arbeit bekommen.

*Die Schauspielerin als Lehrerin*
Dabei kam noch ein weiterer Aspekt des Films "Rhythm is it" zum Tragen: das Phänomen, dass KünstlerInnen offenbar mehr aus sogenannten "schwierigen Kids" herausholen können als die wohlmeinendsten LehrerInnen. Vielleicht sind es auch nicht die KünstlerInnen selbst, sondern die Art und Weise WIE sie mit Kunst umgehen, in welchem Verhältnis sie zur Kunst stehen. Kommt eine Schauspielerin und unterrichtet Theater, hat es eine andere Wirkung, als wenn es ein Theaterpädagoge oder die Deutschlehrerin tut, die selbst nie auf der Bühne gestanden hat. Das Gleiche erleben wir beim Tanz oder mit anderen Kunstformen.

*Lernen heißt Erfahren*
Es waren eher die Fragen, die die Runde beschäftigten. Die Antworten bestanden eher aus ganz praktischen Beispielen wie der Kinderkulturkarawane oder dem Projekt ORIENTierung. Beides gelungene Aktionen, die zeigen, wie fruchtbar Begegnungen sein können, wenn sie künstlerisch-kulturell sind. Lernen funktioniert nicht mit dem Kopf allein, sondern ist ein Prozess, der sich hauptsächlich in Begegnungen und Erfahrungen abspielt. Und dafür sind besonders Tanz- und Theater-Projekte geeignet. In ihnen verbinden sich nämlich ganz viele unterschiedliche Aspekte: Bewegung und Körperarbeit, soziales Lernen in der Gruppe und die Auseinandersetzung mit Texten nach dem Motto "Was hat Dichtkunst mit meinem aktuellen Leben zu tun?" Lernen in künstlerischen Projekten bezieht die ganze Persönlichkeit mit ein: den Verstand, die Gefühle, den Körper - und das ist es, was nach den PISA-Debatten einen Weg aus der Bildungsmisere weisen könnte. Und was das Thema Multikultur angeht, sind solche Projekte allemal sinnvoller als der jährliche Besuch der Partnertstadt oder multikulturelle Feste, wo Kultur zur Folklore wird und interkultureller Austausch sich im Probieren exotischer Speisen erschöpft...

Autorin / Autor: Rosi Stolz - Stand: 17. Dezember 2004