Das Gefühl der Schwerkraft

Wettbewerbsbeitrag von Magdalena, 25 Jahre

Im All ist es vor allem eines: kalt.
Nicht, dass ich das schonmal am eigenen Körper gespürt hätte.
Ich befinde mich zwar im All, und das schon ganz schön lange, aber ich kann nicht von mir behaupten, die Kälte des Weltraums wirklich erster Hand schon einmal erlebt zu haben. Was ich weiß, ist wie es sich anfühlt, in einem Raumschiff auszuharren. Ich weiß, wie es sich anfühlt, in der Weltraumkapsel zu sitzen und auf Bildschirme zu starren, während meine Kollegen und Kolleginnen in ihren Raumanzügen an meinem Fenster vorbeischweben. Ich weiß, wie es sich anfühlt, sich von seiner Familie zu verabschieden und nicht zu wissen, ob die Version von mir, die zu Erde zurückkehrt, noch die selbe sein wird wie zuvor. Ich weiß, wie es sich anfühlt, reichen Privatpersonen zu erklären, dass sie für die nächsten Wochen das Gefühl der Schwerkraft, welches sich auf der Erde so selbstverständlich anfühlt, so vermissen werden, dass es ihnen im Herzen wehtun wird. Und ich weiß, wie schwierig es ist, sich zu küssen, wenn es keinen Boden gibt, der einen unter den Füßen weggezogen werden kann.

Als ich Elisa das erste Mal traf, erwartete ich eine abgehobene ältere Dame, die mich mit dem hochnäsigen Blick einer Person, die in ihrem Leben keinen Finger krümmen musste, bedenken würde.
Ich hatte nicht erwartet, dass sie so jung war, und so schön. Auch nicht, dass sie mich ansehen würde, als würden in meinen Augen die Milchstraße und die Andromeda-Galaxie aufeinandertreffen. Ich hatte nicht erwartet, dass ihre Hände auf meine treffen würden, als ich ihr probehalber den Helm ihres Raumanzugs überzog, oder dass die Wölbung ihrer Lippen meinen Namen so formte, als sei er nur dafür erfunden worden.

Ich habe mich immer für eine sehr aufgeklärte Person gehalten. Ich stamme aus einem liberalen Haushalt; zumindest sind meine Eltern wohl weltoffen genug, um den Traum ihrer Tochter, mit Space X ins All zu fliegen, für bare Münze zu nehmen. Meine Eltern brachten mir früh bei, dass Sexualität nicht schwarz-weiß ist, sondern ein Spektrum. Als ich vierzehn war, fragten sie nicht nach meinem ersten Freund, sondern fragten, ob ich schonmal jemanden geküsst hatte. Ob Mann oder Frau definierten sich nicht und ich ließ, ungeküsst wie ich war, die Frage unbeantwortet. Als ich sechzehn war, fragten sie, ob ich vielleicht Gefühle für meine beste Freundin entwickelt hatte. Ich war damals entrüstet, dass sie mich für lesbisch halten könnten. Ich ärgerte mich so über diese Annahme, dass ich mir nächtelang den Kopf darüber zerbrach und mich schließlich in meine beste Freundin verliebte. Lange hielt ich das nur für die intensivste Freundschaft, die ich je hatte. Dann lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen und ich weinte nächtelang in meinem 90-Zentimeter Bett in der kleinen, dreckigen WG in Kreuzberg. Um mich abzulenken begann ich, Bücher über’s All zu lesen. Und so ist meine erste, unglückliche Liebe im Endeffekt irgendwie Schuld daran, dass ich mich nun in dieser Situation befinde. Hätte ich mich doch für Meeresbiologie interessiert oder einfach eine Ausbildung zur Kfz-Mechanikerin gemacht. Dann säße ich jetzt sicherlich nicht hier, alleine im All, gefühlte Jahrzehnte von meinem Zuhause entfernt und umgeben von den Leichnamen meiner Kolleg:innen und Kund:innen.

Bevor unsere Mission startete, gab es viel Kritik von den Medien und der Politik. Ein unnötiges Riskieren menschlichen Lebens, sei das, ein sensationsgeiler Plan, welcher nur darauf aus sei, die finanziell Reichen nur noch reicher an Erfahrung zu machen. Ich sah das auch so, doch der Job war gut bezahlt und bei Weitem meine einzige Möglichkeit, in’s All zu fliegen. Natürlich hatte auch ich den Albtraum der gestorbenen Milliardäre in einem U-Boot auf dem Weg zur Titanic im Kopf, natürlich hatte auch ich meine Zweifel an dieser wissenschaftlich höchst unnötigen, doch ökonomisch sehr interessanten Mission. Doch ich verstand auch die Faszination dieser Menschen, konnte mir vorstellen, dass in einem Leben, in dem man sich alles kaufen kann, allein diese Erfahrung auch nur ansatzweise an etwas Unbezahlbares grenzen konnte. Und wenn ich ehrlich bin, war ich auch immer schon eine Misanthropin.
„Sollen sie doch“, dachte ich mir, „Mir doch egal, wenn ich da oben gemeinsam mit ein paar Superreichen zu Grunde gehe.“
Nun, wo der Gestank verwesender Körper langsam zu mir hinüber wabert, ändere ich meine Meinung langsam. Ich wusste ja nicht, dass ich als Einzige überleben würde. Ich wusste nicht, wie lange man als Einzelperson von den Vorräten eines Raumschiffs, welches für fünfzehn Personen ausgelegt ist, überleben kann. Ich wusste nicht, wie einsam man sein kann.
Und ich wusste vor allem nicht, dass ich im Weltraum meine große Liebe kennenlernen würde. Wie aufgeklärt kann man schon sein, wenn man erst in’s All fliegen muss um sich damit abzufinden, dass man Frauen liebt. Bei Elisa war das anders, sie hatte ihr Coming-Out mit fünfzehn, sie bezeichnete sich selbst als „Gold-Star-Lesbe“. Ich wusste nicht, was das bedeutet, doch traute mich nicht, dass zuzugeben. Zu groß war die Distanz schon jetzt, sie Erbin eines Milliardenunternehmens mit dem tiefen Wunsch, etwas anderes zu erleben als die immergleichen weißen Fließen ihres Eigenheims in Brandenburg. Wir waren so anders aufgewachsen, so andere Wege gegangen und ich fühlte mich ihr ohnehin schon so unterlegen, dass ich nicht auch noch zugeben konnte, mich in ihrem Slang nicht auszukennen.

Jetzt sitze ich hier, ihre Leiche neben mir und wünsche mir, ich wäre einfach ehrlich gewesen. Was sollen diese kleinen Lügen, die nichts bringen, außer vergrößerter Distanz. Hätte ich gewusst, was passieren würde, hätte ich ihr alles erzählt. Dass ich durch sie zum ersten Mal verstanden habe, dass ich Frauen liebe, dass sie mir gezeigt hat, dass ich auf der Erde alleine nie so Zuhause sein werde wie im All mit ihr, dass es mir egal ist, ob es Leben auf dem Mars gibt oder nicht, solange sie mir in die Augen sieht.

Doch ich habe es nie gesagt. Und so sitze ich nun meine Tage ab und warte, bis mir die Nahrung ausgeht.

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Magdalena