Die Verlorenen

Wettbewerbsbeitrag von Pascal Theile, 22 Jahre

Mir war unser altes Shuttle lieber. Um ehrlich zu sein, hasste ich dieses neue Shuttle, das uns die Agency aufgezwungen hatte, wie ich alles Neue hasste, was uns die Agency aufzwang, denn es war nichts anderes als ein kalter, steriler Sarg, in dem wir uns zu Tode fahren sollten, wie so viele andere vor uns, die wir nicht kannten und die uns nichts bedeuteten. Es hatte keinen Charakter, keine Seele, keine Geschichte, es roch nur nach Metall und Chemikalien und dazu nach dem Schweiß der anderen, die vor uns daringesessen hatten und die wir nicht kannten und die uns nichts bedeuteten. Es war ein fliegender Sarg, der uns in den Tod bringen sollte, wie er es schon mit so vielen anderen getan hatte, die wir kannten oder nicht kannten, ob sie uns etwas bedeuteten oder nicht. Ich hasste dieses neue Shuttle wie ich alles Neue hasste, was uns die Agency aufzwang.
Der einzige, der mir noch etwas bedeutete und dem ich noch etwas bedeutete in dieser Galaxis war Derick, mein Kollege, der sich neben mir auf den knarrenden Sitzen niederließ. Er war der einzige, der mich verstand und den ich verstand, der meine Gedanken lesen konnte und dessen Gedanken ich lesen konnte. Wir waren ein eingespieltes Team, er und ich, seit wir uns vor zehn Jahren bei einer Mission kennengelernt hatten, die uns fast das Leben gekostet hatte. Wir hatten zusammen erlebt, was man im Weltraum nur erleben konnte, die Schönheit und die Grausamkeit, die Faszination und die Langeweile, die Freude und die Trauer, den Erfolg und das Scheitern. Wir hatten uns gegenseitig gerettet, getröstet, geliebt. Wir hatten nichts anderes als uns in dieser Galaxis, in der wir lebten und arbeiteten und sterben würden.
Das Ziel unseres neuen Shuttles war ein abgestürztes Schiff im Secunda Hyadum-System, das vor knapp zweihundert Jahren auf einer Testmission verschollen war. Damals sollte erstmals ein Hyperraumantrieb erprobt werden, doch gleich nach dem ersten Sprung brach der Kontakt ab, und das Schiff wurde für immer verloren befunden.
Wir hatten kaum einen solchen beendet - mit einem dumpfen Knirschen und einem Ruck, der meinen Magen zusammenzog – als Ingenieurin kannte ich nichts besser als unsere heutigen Antriebe und eine regelmäßige Reise durch den Hyperraum gehörte zur Routine, doch gerade auf dieser Mission gingen mir die Berichte über jene Handvoll Schiffe, die dabei doch verloren gingen, nicht aus dem Kopf.
»Signal empfangen«, erklärte unser Bordcomputer mit seiner kalten und gleichgültigen, synthetischen Stimme.
»Vom verschollenen Schiff?«, fragte Derick.
»Ein Signal der verschollenen IAE Vermillion«, antwortete der Bordcomputer, der immer so kurz und knapp und trocken und nüchtern und sachlich und präzise war.
»Können wir es orten?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete der Bordcomputer, der immer so einsilbig war.
»Können wir es anhören?«, fragte Derick.
»Ja«, sagte der Bordcomputer.
»Na, dann los«, sagte ich.
Der Bordcomputer schaltete das Signal ein. Aus den Lautsprechern drang ein Mix aus statischem Gebrüll und verzerrten Stimmen, ein Gebrüll, das uns alles sagte, was wir wissen mussten und das uns nichts sagte, was wir wissen wollten.
Das All zeigte mir immer alles, was ich vor meiner ersten Reise darüber hörte oder las oder sah oder träumte oder fürchtete. Das All zeigte immer alles, in dunkel und in kalt, aber eines konnte ich nicht bestätigen. Es war gewiss nicht leise. Hintergrundrauschen durchströmte den gesamten Kosmos. Und noch hinter dem Hintergrund warteten Signale wie dieses.
»Hört sich nach Stress an«, warf Derick mir zu, ein müdes Lächeln entblößte seine Zähne.
»Können Sie uns hören?«, rief ich in das schattenhafte Nichts. Die einzige Antwort, die ich erhielt, war das widerhallende Gebrüll, das sich langsam schon in meinen Ohren festsetzte. Ich hasste dieses Gebrüll wie ich alles hasste, was uns diese Mission aufzwang.
Derick legte eine Hand auf meine Schulter und schüttelte den Kopf. »Keine Chance, Delphi. Wir müssen da runter«.


Ilvyrra. Der Mond muss mal ein strahlender Außenposten gewesen sein, bevor er von den tiefen, dumpfen Tunneln zerfressen wurde, die der Bombast titanischer Kriege in ihn geschlagen hatte. Wie viele andere Welten und Monde war er der Operation Janus zum Opfer gefallen und nunmehr ein öder, lebensfeindlicher Klumpen, der uns mit seinem trüben Blick empfing.
Zwar verrieten die zerstörten Trümmer der Vermillion uns schon von außen, dass wir die Hoffnungen aufgeben sollten, Überlebende zu finden, aber wir betraten hier kein Schiff, sondern einen Ozean des Grauens. Die zerschlagenen Leiber von Crewmitgliedern kündeten von einem unergründlichen Leiden. Ihre Augen, erfüllt von einem Ausdruck tiefster Qual, schienen uns gar anzuklagen. Die Wände waren bedeckt von rätselhaften Zeichen, die wie Schatten an den Grenzen unseres Verstandes kratzten. »Alle Berechnungen waren korrekt«, hauchten sie uns zu, während wir uns durch diesen Irrgarten des Wahnsinns wanden.
Wir folgten dem Flüstern bis zum Zentrum des Schiffes, wo wir ein einfaches Buch fanden. Vergleichsweise unbeschädigt, schien es, als wollte es uns genau so präsentiert werden.
Die ersten Seiten waren uninteressant. Berichte über den Alltag des Autors, bis dieser anfing, von einer unheimlichen Stimme zu berichten. Eine Stimme, die ihm das Unbegreifliche gezeigt habe, seinen Geist in den Abgrund der Verzweiflung stürzte. Die Stimme behauptete, dass der Hyperraum eine Illusion sei, erschaffen, um die Wahrheit zu verschleiern. Eine Wahrheit, so grausam und erbarmungslos, dass sie uns den Atem raube.
Die Seiten füllten sich nur mit den wahnhaften Gedanken des Autors, der in den endlosen Strudeln seines Geistes gefangen war. Eine Welt, die sich hinter den Schleiern der Wahrnehmung verbarg, und eine Wahrheit, die nur durch den Wahnsinn offenbart wurde.
Während Derick in den letzten Einträgen versunken war, untersuchte ich die Leichen. Sie sahen aus wie Schlafende, zu vertieft in Gedanken, um sich zu regen, in Wahrheit aber längst schon tot.
»Unser Traum trieb uns auf diese Jagd«, las Derick mit heiserer Stimme vor. Einer der Toten schien mich gar anzuspringen, durchbohrte mich mit einem kläglichen Erkennen in seinen starren Augen.
»Doch nicht auf dem Schlachtfeld würden wir sterben. Die Stirnen der Männer bluten, wo doch keine Wunden sind«.
Ich verstand. »Sie waren keinem Angriff ausgesetzt. Sie waren auch nicht irregeleitet worden. Alle Berechnungen waren korrekt…«. Ich wartete einen Moment, während Derick das Buch zuklappte und an seinen Platz zurücklegte. »Das Schiff war vollständig dazu bereit, durch den Hyperraum zu fliegen. Aber ihr menschlicher Verstand… er war es noch nicht.«

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Pascal Theile